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Wenn der Acker brennt

Wenn der Acker brennt

Titel: Wenn der Acker brennt
Autoren: Brigitte Maerker
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sagen. Gehen Sie.« Unsanft schob der Mann sie zur Seite und eilte an ihr vorbei.
    Von diesem unfreundlichen Zeitgenossen würde sie ganz sicher nichts über Amata erfahren. Sie musste ihr Glück im Dorf versuchen. Irgendjemand würde ihr schon etwas über das Mädchen erzählen können. Bevor sie wieder zum Ausgang ging, drehte sie sich noch einmal um. Der Mann lehnte an der Tür der Friedhofskapelle und starrte ihr nach. Vielleicht sollte sie nicht so voreilig über ihn urteilen. Sie hatte doch keine Ahnung, wie tief die Trauer war, die ihn an diesen Ort trieb. Vermutlich hatte er sich nur deshalb nicht im Griff, weil er gerade jemanden verloren hatte. Sie hatte doch in den letzten Tagen selbst erlebt, wie sehr ein Mensch mit sich selbst beschäftigt ist, wenn er trauert, wie sehr seine Wahrnehmung der Außenwelt gestört sein kann.
    »Der Herrgott stehe uns bei«, murmelte Georg Denninger und setzte seine Brille ab, nachdem Christine den Friedhof verlassen hatte. Zunächst hatte er geglaubt, eine Journalistin vor sich zu haben, die einen Tipp bekommen hatte und Rick auflauern wollte. Aber diese Vermutung war falsch gewesen. Er hatte es sofort gewusst, als er ihre Augen sah. Sie war die Verbindung zur Vergangenheit, auf die er so lange gewartet hatte. Mit einem gebügelten weißen Taschentuch polierte er die runden Gläser seiner Brille, betrachtete die feinen Kratzer, die sich im Laufe der Jahre in das Glas eingekerbt hatten, und setzte die Brille wieder auf. »So hat es kommen müssen, keine Schuld bleibt auf ewig ungesühnt«, murmelte er vor sich hin.

5
    Christine ließ ihren Wagen vor dem Friedhof stehen und ging zu Fuß ins Dorf, es waren nur ein paar hundert Meter. Die Straßen waren auffallend sauber, keine Papierschnipsel, keine Zigarettenkippen lagen herum. Sie betrachtete die Häuser mit den gedrechselten Balkongeländern und atmete den Duft der Rosen ein, die in den Vorgärten blühten. Es war der Duft, den sie aus dem Garten ihrer Mutter kannte. Auf den ersten Blick war Sinach eine perfekte kleine, in sich geschlossene Welt, aber offensichtlich waren seine Bewohner zurzeit ausgeflogen. Abgesehen von dem alten Mann auf dem Friedhof war ihr noch niemand begegnet. Das leise Klippklapp ihrer Sandaletten war das einzige Geräusch, das von dem Kopfsteinpflaster widerhallte.
    Als kurz darauf der Motor einer Harley Davidson die Stille durchbrach, blieb sie stehen. Seitdem sie vor ein paar Jahren für den Maron Verlag Fotos von einem Bikertreffen in der Provence gemacht hatte, erkannte sie eine Harley allein an ihrem Klang. Sie nahm die Kamera aus der Fototasche und wartete darauf, dass die schwere Maschine gleich an ihr vorbeibrauste, aber nichts geschah. Zuerst schien sie auf der Stelle zu verharren, dann wurde der Motor leiser und verstummte schließlich ganz. Christine schaute die Straße hinunter, doch sie war inzwischen einen Bogen gelaufen und konnte den Ortseingang nicht mehr einsehen. Egal, dann musste sie eben auf den Anblick der Harley verzichten. Sie packte die Kamera wieder ein und folgte einem weißen Schild in Richtung Rathaus.
    Sie fragte sich, ob der Bach, den sie gleich darauf überquerte, derselbe war, den sie auf der anderen Seite der Berge gesehen hatte. Gemächlich floss das silbrige Wasser unter dem Holzsteg hindurch und schlängelte sich durch sein weites Kiesbett.
    Auf der anderen Seite des Bachs sprudelte ein alter steinerner Brunnen. Sie setzte sich auf seinen Rand, stellte ihre Tasche ab und berührte den glatten kühlen Findling, in den der gusseiserne Hahn eingelassen war. Wasser und Stein, ein Trugbild des Lebens.
    »Lass dich nicht von seiner Leichtigkeit täuschen, mein starker Freund, das Wasser ist dein Feind, irgendwann wird es dich zu Staub gewaschen haben.« Christine klopfte mit der flachen Hand auf den Findling, als wollte sie ihn trösten, während ihr Blick weiter die Straße hinauf zum Rathaus wanderte, einem imposanten Bau mit szenischen Lüftlmalereien und hellblauen Fensterläden. Aber auch dort war keine Menschenseele auszumachen. Vom Brunnen aus konnte sie noch andere Straßen einsehen, und überall bot sich ihr das gleiche Bild. Kein Laden war geöffnet, die Tische und Stühle vor den Cafés und Restaurants waren verwaist.
    Vielleicht sind sie alle geflüchtet, weil ein Zug entgleist ist und giftige Gase die Luft verpesten, schoss es ihr durch den Kopf. Nein, wenn überhaupt, dann war wohl eher ein Lkw verunglückt. Eine Bahnlinie war gar nicht in der Nähe.
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