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Wenn das Schlachten vorbei ist

Wenn das Schlachten vorbei ist

Titel: Wenn das Schlachten vorbei ist
Autoren: T. C. Boyle
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einer Mitbewohnerin erzählte oder einem Wildfremden im Flugzeug. »Im zweiten Monat schwanger. Und sie wusste es nicht mal.« Dann hielt sie abermals bedeutungsvoll inne. Ihre eigene Mutter wäre ungeboren gestorben, wäre irgendwo angespült worden, Futter für die Krabben, und sie selbst würde nicht existieren, würde nicht hier sitzen können, das Haar noch nass von der Dusche oder zu einem Pferdeschwanz gebunden und durch das Loch an der Rückseite der Baseballmütze gesteckt, sie würde nicht alle Nuancen und existentiellen Implikationen aus dieser Geschichte, der Geschichte der Welt vor ihrer Geburt, herauskitzeln können, wenn ihre Großmutter, an die sie sich nur als hinfällige und gebrechliche Frau erinnerte, in Körper, Geist und Seele nicht so zäh gewesen wäre.
    Und natürlich empfand sie auch die Kälte, die darin lag, sah das Würfeln des Schicksals, das die Unglücklichen und Untüchtigen ausmerzte, während die anderen sich vermehrten. Wenn tausend Generationen derselben Familie Schiffbruch erlitten, würden ihre Nachkommen dann irgendwann Schwimmhäute und Kiemen entwickeln, oder würden sie lernen, an Land zu bleiben und der Versuchung der Inseln, die am glitzernden Horizont zu schweben schienen, zu widerstehen? Sie lebte, war im Schnittpunkt der Schöpfung wie alles andere, das in dem Augenblick, da sie die Geschichte erzählte, den Funken des Lebens enthielt, und eines Tages würde sie ebenfalls Kinder haben, der Summe des Lebens etwas hinzufügen, die DNA voranbringen. Der Vater ihrer Mutter war tot. Sein Bruder ebenfalls. Und auch die Mutter ihrer Mutter hätte sterben sollen. Nur: Sie war nicht gestorben.
    Es war im März des Jahres 1946. Almas Großvater Tilden Matthew Boyd war seit sechs Monaten aus dem Krieg im Pazifik zurück, von wo er einen verkrüppelten rechten Arm mitgebracht hatte: kein Fleisch oberhalb des Ellbogens, nur eine einzige lange Narbe, die sich wie ein verbranntes Omelette um den Knochen schmiegte. Ihre Großmutter, jung und optimistisch und mit Haar, so dunkel und voll wie ihr eigenes, zerschlug eine Flasche am Bug der Beverly B. , während Till, der durch ein Wunder, konkreter und greifbarer als alle Kathedralen der Welt, aus dem Rachen des Krieges zu ihr zurückgekehrt war, am Ruder saß und Möwen über ihnen kreisten und Wolken von Nordwesten herbeizogen und die Sonne über das Wasser jagten. Beverly war glücklich, weil Till glücklich war, und sie aßen die Sandwiches und tranken den billigen Sekt aus Pappbechern in der Kajüte, denn der Wind war steif und die Wellen schaumgekrönt und winterlich. Auch Warren war an jenem ersten Tag, am Tag des Stapellaufs, dabeigewesen, ein wandelndes Diktiergerät, hatte unerbetene Ratschläge, abgedroschene Klischees und ausführliche Kritik von sich gegeben. Aber er trank den Sekt und kam an zwei Wochenenden hintereinander, um Till mit dem Motor zu helfen und die Teakschränke und Schlingerleisten zu montieren, die Till in der Garage ihres gemieteten Hauses gebaut hatte, eines Hauses, das einen Anstrich, Moskitogitter und Dachrinnen gebraucht hätte, damit der Winterregen sich nicht mehr einfach vom Dach ergoss und jeden durchnässte, der, den Schlüssel in der Hand und zwei große Einkaufstüten in den schmerzenden Armen, vor der Haustür stand. Aber Till hatte keine Lust, das Haus zu reparieren – es gehörte ja nicht ihnen. Die Beverly B. dagegen schon.
    Sie war ein schlankes, achteinhalb Meter langes Kajütboot mit Holzrumpf, solide gebaut, mit Teakholzverzierungen und Schotten mit Knebelverschluss, eine echte Schönheit, aber sie hatte während des Krieges, aus dem ihr Besitzer, ein Marinesoldat, nicht zurückgekehrt war, vernachlässigt auf dem Trockenen gelegen. Till entdeckte das Boot am hinteren Ende der Werft, halb von Unkraut überwuchert, machte die still trauernden Eltern des Marinesoldaten ausfindig – ihr Junge war in einem Ölteppich verbrannt, nachdem ein Kamikazepilot während der Schlacht im Golf von Leyte die St. Lo gerammt hatte – und saß, den Hut auf ein Knie gelegt, in ihrem Wohnzimmer, während sie Fotos und Orden betrachteten, die letzten Erinnerungen an ihren toten Sohn. Volle zwei Stunden saß er da, trank lauwarmen Beuteltee, auf dessen Oberfläche sich ein Stück bittere Zitrone langsam um sich selbst drehte, und als er schließlich das Boot erwähnte, starrten sie ihn an, als wäre er gerade aus den Seiten des Familienalbums gekrochen, um in dem abgedunkelten und kaum erleuchteten
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