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Wenn das der Führer wüßte

Wenn das der Führer wüßte

Titel: Wenn das der Führer wüßte
Autoren: Otto Basil
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gewesen. Auch diese, das hatte Höllriegl schon immer geahnt, wurzelte letztlich in nordisch-heilem Boden. Aber Rosenberg, der unbestritten führende Staatsphilosoph bis zum Schluß, lebte nicht mehr. Eine junge, offiziell einstweilen noch verpönte, immerhin aber stillschweigend geduldete Bewegung (was darauf schließen ließ, daß gewisse Vorfelder von den neuen Partei-Ideologen bereits erobert worden waren) drängte nach vorn, die in Angriffen „NATMAT“ genannt wurde: „Nationaler Materialismus“. Die Gyromantie, mit dem Odium Rosenbergscher Förderung behaftet, sah sich einem neuen Feind gegenüber.
    Die Drucksachen – Schulungs- und Leitbildgequatsch – warf Höllriegl ärgerlich zur Seite. Die Briefe! Ein Kantinenwirt im Nachbarort, nach einer Prostata-Operation, war von Krebsfurcht befallen; er litt unter Schwindelgefühl, Spasmen, nervösen Durchfällen (die Obstbäume in seinem Garten hatten typische Krebsknollen, so schrieb er). Reizstreifen? – Die Witwe eines bei der Operation „Seelöwe II“ in Folkestone gefallenen Oberstudienrats aus Pforta, achtundvierzig, infolge schwerer Arthritis ans Zimmer gefesselt, klagte über Schlaflosigkeit, Hirndruck, Sehstörungen, Absencen. Wechselbeschwerden oder Erdstrahlen? – Dritter Fall: Ein Lokführer in den besten Jahren, verheiratet, wurde von Platzangst, Impotenz, Minderwertigkeitsgefühlen, schweren Depressionen geplagt. Das deutete der Briefschreiber selbstverständlich mit vorsichtigen Redewendungen an, Minderwertigkeitsgefühle galten als Staatsverbrechen. – Ein Laborgehilfe, dreiundzwanzig, der im Forschungszentrum des UmL Neuengamme (mit dem ominösen Kennbuchstaben V) seit anderthalb Jahren an der Kobalt- und Caesiumkanone begeistert, wie er schrieb, gearbeitet und hundert Fälle, größtenteils ostisches Material, serienversuchsweise bestrahlt hatte, war anscheinend am Ende. Er litt an Nausea, Wahnvorstellungen, allergischen Reaktionen und völliger Schlaflosigkeit. Schlafmittelvergiftung? Strahlensyndrom? Oder Erdeinwirkung? Wohl letzteres. Der Mann ersuchte um aufklärende Schriften und Zusendung eines siderischen Geräts.
    Immer die gleichen Klagen. Schlafstörungen, Gemütskrankheiten, Verfolgungswahn, Lebensüberdruß. Eine Selbstmordepidemie, von den Behörden streng geheimgehalten – schon die Verwendung des schönfärbenden Wortes „Freitod“ wurde geahndet –, suchte nicht nur das Reich, auch das ganze vom Führer geeinte Abendland heim. Vor allem waren die Eliten betroffen. Mißlungener Selbstmord wurde mit Zuchthaus, in manchen Fällen sogar mit Zwangsaufenthalt in den Tschandalengebieten oder in Untermenschenlagern bestraft. Schlaflosigkeit? Das deutsche Volk schlief schlecht seit dem größten Sieg seiner Geschichte.
    Auf dem Lehnsessel, sonst für Besucher bestimmt, lagen heute Zeitungen und Illustrierte. Obenauf die große KdF-Illustrierte „Das Tausendjährige Reich“. Ziemlich altfränkische Blätter wie „Der Flammenwerfer“, „Das Schwarze Korps“ und „Der Stürmer“ (der jetzt gegen die gelben Affen, im besonderen gegen den Soka Gakkai und die Familie des Tenno zu Felde zog) waren hier ebenso zu finden wie „Der Landser“, die „Rassenkundliche Somatologie“, „Herrentum“, der „Panzerbär“, die „Sieg-Rune“, der „Wehrwille“, die Frauenbildzeitung „Kriemhilde“ der „NS-Pendler“. Mit sicherem Griff zog Höllriegl ein Heft der „Minne“ aus dem Stapel, das auf dem Umschlag eine halbnackte Frau auf südlichem Strand zeigte.
    Die „Minne“ wurde mit Vorliebe von der Reichsjugend gelesen; sie war dazu bestimmt, den Jungmann und die junge deutschblütige Volksgenossin auf jene hehren Ziele vorzubereiten, die später in den Ordensburgen und Zuchtmutterklöstern verwirklicht wurden. Insbesondere geiferte die „Minne“ gegen „herrschaftslose“ Liebe und individuelle Gattenwahl. Sie war das radikale Organ für die Aufzucht der Blau-Blond-Rasse, zugleich auch, wie es hieß, ein Sprachrohr des „NATMAT“, jedoch aristokratischen Einschlags. Die Schriftleitung dieser reißerisch aufgemachten Bildzeitung, die ein ehemaliger PK-Mann namens Hansjörg Fenrewolf Stoffregen in Berlin herausgab, verstand es blendend, hinter der populärwissenschaftlichen Fassade von rassenkundlichen und eugenetischen Abhandlungen die Sinne zu kitzeln und einer neuartigen Erotik, deren Wurzeln in den Arbeitslagern der Maiden aus Vorkriegstagen zu suchen waren, Tür und Tor zu öffnen.
    Das etwa 45jährige
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