Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Titel: Wen liebst du, wenn ich tot bin?
Autoren: Arena
Vom Netzwerk:
nicht fassen, erst einen Jungen und dann ein Mädchen zu bekommen, genau in dieser Reihenfolge.
    Er erzählte allen, dass es sein Herzenswunsch sei, als ich mit dir schwanger war. ›Ein Rüschenhöschen‹, hat er gesagt. Ich wollte es nicht beschreien und es war mir auch egal, solange du nur gesund warst, aber er sagte es jedem, der es hören wollte. ›Ein Rüschenhöschen, oder wir schicken es wieder zurück‹.«
    Mum sieht sich mit leerem Blick um, aber während sie spricht, wird ihre Stimme wieder ein bisschen lebendiger.
    »Alle Männer machen einen großen Bogen um Babys, solange sie noch klein sind, aber nicht dein Vater. Ihm machte es Spaß. Windeln, Wickeln, all das. Du durftest auf ihm herumkrabbeln. Wenn er nicht gerade arbeitete, hat er dich überallhin mitgenommen.«
    Sie blickt hoch. Es ist wieder so ein Tag in Weiß und Blau. Die hellen Wolken ziehen schnell am Himmel.
    »Damals waren wir glücklich. Wir vier. Ich wünschte, du könntest dich daran erinnern.«
    Ich trinke den Rest der heißen Schokolade. Sie schmeckt so süß. Der Weinbrand brennt in der Kehle und ein angenehmes Gefühl breitet sich in meinen Adern aus.
    »Du hast ihm das Herz gebrochen, weil du ihm etwas verschwiegen hast. Das versteht er nicht. Du bist immer noch sein kleines Mädchen. Aber ich … mit uns beiden ist es etwas anderes. Die Gespräche, die wir geführt haben. Ich weiß, was du für ihn empfunden hast, Iris. Für … Trick.«
    Sie schluckt, als sie seinen Namen sagt, und plötzlich möchte ich, dass sie zu reden aufhört, denn ich fühle mich so schuldig, aber sie hört nicht auf. Sie hört niemals auf.
    »Du hast nichts falsch gemacht, Iris. Natürlich, du hättest nicht lügen oder dich hinter seinem Rücken davonstehlen sollen, aber du bist jetzt dreizehn Jahre alt. Beinahe vierzehn. Er vergisst, was das heißt. Er ist so altmodisch! Du hast nur getan, was alle Teenager tun. Und dieser Junge. Trick. Er war für dich da. Das weiß ich.«
    Ich wische mir über die Augen.
    »Damit musst du ja auch noch fertig werden, nicht nur mit dem Tod deines Bruders. Aber daran denkt dein Vater nicht. Er weiß, dass du ihn nicht über das, was vorgefallen ist, belügen würdest, egal, was dir dieser Junge bedeutet. Dinge zu verschweigen, ist … Er weiß, dass du deinen Bruder geliebt hast. Natürlich weiß er das.«
    Ich möchte reden, möchte ein bisschen von dem, was mir durch den Kopf geht, aussprechen, aber ich habe Angst, etwas Verkehrtes zu sagen, außerdem hört sie ja nie auf zu reden.
    »Wir waren so verschieden, ich und dein Vater. Schon immer. Deshalb haben wir uns anfangs auch so sehr geliebt. Weißt du, mir ist es egal, wer schuld ist. Dadurch ändert sich nichts. Es ändert weder etwas an meinen Schuldgefühlen, noch bringt es Sam zurück. Er kommt nicht wieder. Das ist alles, woran ich denken kann. Das ist alles, wofür in meinen Gedanken Platz ist. Aber dein Vater, er will etwas tun.«
    »Ich fühle mich die ganze Zeit so schlecht«, versuche ich, sie zu unterbrechen.
    »Das weiß ich doch, mein Kleines«, sagt sie und zieht mich an sich.
    »Nein, ich meine … ich fühle mich so schlecht.«
    »Sieh mich an, Iris. Es gibt nichts, wofür du dich schuldig fühlen müsstest. Verstehst du das? Sam war dein Bruder und Trick war dein Freund, aber was sie getan haben, hat mit dir überhaupt nichts zu tun. Du musst dich nicht entscheiden. Nur weil dein Vater und ich nicht mehr zusammenleben können, heißt das nicht, dass du einen von uns nicht mehr lieben darfst, nicht wahr? So funktioniert das nicht. Liebe ist anders.«
    Es ist, als hätte das riesige Ungeheuer, das meinen Hals umklammert, plötzlich losgelassen.
    Sie schraubt die leere Trinkkappe wieder auf die Flasche, fährt sich mit der Hand übers Gesicht und kratzt sich ganz fest überall am Kopf. Sie streicht über die Adidas-Streifen von Sams Hose. Sie schaut mich an und schaut mich an und schaut mich an.
    »Das Einzige, was wir jetzt tun können, wirklich das Einzige, ist, dass wir aufrichtig zueinander sind. Wir müssen einander sagen, wie uns zumute ist, wir müssen ehrlich sein und wir müssen es durchstehen. Das ist alles, was wir tun können, Iris. Das ist mein Ernst. Mehr bleibt uns nicht.«
    Sie nimmt meine Hand und reibt mit ihrem Daumen über meine Finger, und da endlich traue ich mich zu sprechen und den Grund zu nennen, weshalb ich mich so schlecht fühle.
    »Ich bin so wütend auf ihn, Mum, weil er mit allem angefangen hat. Er wusste, dass Trick
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher