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Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Titel: Wen liebst du, wenn ich tot bin?
Autoren: Arena
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mein Freund ist. Und er ist auf ihn losgegangen, einfach so, ganz ohne Grund. Trick hatte Angst, Mum. Er wusste nicht, was er tat. Sie sind alle auf ihn los. Als ich ihn traf, sah er übel aus. Das war später. Er hustete Blut. Er hat die ganze Nacht gewartet. Hier haben wir uns immer getroffen. Seine Mutter und sein Vater sind weggefahren, aber er ist geblieben und hat auf mich gewartet. Um mir seine Adresse zu geben. Ich wusste nicht, ob er es bis nach Hause schaffen würde, aber er hat es geschafft.«
    Mum blickt mich an, sie kaut auf ihrer Oberlippe, und ich kann nicht weiterreden. Ihre blauen Augen sind kühl.
    »Es ist so schwer, das anzuhören, Iris. So schwer zu ertragen. Es klingt so, als würdest du sagen, er hätte es nicht anders verdient.«
    »Ich weiß«, antworte ich, aber ich höre nicht auf zu reden, denn sie hat recht. Wir können jetzt nur die Wahrheit sagen und sehen, was dann noch bleibt. »Wenn Sam noch am Leben wäre, würde ich Trick verzeihen, das weiß ich, denn er hat das alles nicht gewollt. Aber worin besteht eigentlich der Unterschied? Ganz ehrlich? Er hat meinem Bruder einen Ziegelstein an den Kopf geschlagen. Genau das hat er getan. Es hätte nicht geschehen dürfen, nichts von allem hätte geschehen dürfen. Aber ich verstehe einfach nicht, weshalb Sam die Sache angefangen hat, Mum. Ich verstehe nicht, warum. Warum hat er das gemacht?«
    Ich weiß gar nicht mehr genau, was ich sage, alles ist so weit weg von mir – bis Mum mich in die Arme nimmt.
    »Es tut mir leid, dass ich dich hier allein gelassen habe. Dass du versuchen musstest, mit allem alleine zurechtzukommen … Du musst mit deinem Vater reden, Iris. Damit er versteht …«
    Sie kann nicht weiterreden. Es ist seltsam, sie weinen zu hören, in meinem ganzen Leben habe ich sie noch nie weinen sehen, und jetzt kann sie gar nicht mehr damit aufhören.
    »Ich dachte, ihr kommt schon zurecht«, schluchzt sie. »Ich dachte, ihr kommt zurecht.«
    Aus irgendeinem Grund muss ich daran denken, wie Sam es immer gehasst hat, wenn man über ihn lachte, ich es aber trotzdem immer wieder tat, damit er sich dumm vorkommt, und ich frage mich, wie man zu jemandem, den man liebt, so grausam sein kann. Wie kann man etwas anderes tun, als sich zu lieben und freundlich zueinander sein, wenn am Schluss, still und leise, so sicher wie die Nacht nach einem strahlenden Tag, nur noch dies bleibt?

Zweiundvierzig
    D ie Nacht vor Sams Beerdigung schlafe ich in seinem Bett. Irgendwann kommt Dad ins Zimmer. Er hat mich hier nicht erwartet. Er riecht nach Whisky und Zigarettenqualm. Langsam geht er rückwärts wieder hinaus. Hoffentlich hat er nicht gedacht, dass Sam wie durch ein Wunder wieder zurückgekommen ist.
    Ich habe ein schwarzes Leinenkleid und neue Lederballerinas. Matty und Donna haben einige Sachen vorbeigebracht, aus denen ich etwas auswählen sollte, aber dann haben sie es für mich ausgesucht. Mir war es egal. Matty hat mir ein schwarzes Band ins Haar geflochten, damit es mir wenigstens dieses eine Mal nicht ins Gesicht fällt.
    »Du bist so hübsch«, hat sie gesagt und an meinen Locken herumgefingert, aber eigentlich wollte sie damit sagen, wie leid ihr alles tut.
    Die Sonne ist gerade erst aufgegangen, aber ich ziehe trotzdem schon das Kleid an und setze mich auf mein Bett. Ich komme mir vor wie die Schwester in einem Theaterstück, das von einer Beerdigung handelt. Ich warte. Dad ist ebenfalls viel zu früh aufgestanden. Ich höre ihn unter der Dusche und denke an Trick, wie er vor meinem Fenster steht. An Sam, wie er im Krankenhaus die Augen aufschlägt und nichts sieht.
    Das Mädchen an meiner Wand, das ich sein soll, steht auf einem Hügel und wartet darauf, dass der Sturm losbricht. Sie schaut auf einen Bussard, der ein kleines Kaninchen mit sich in die Luft reißt. Das Bild wirkt jetzt bedrohlich auf mich, wie ein böses Omen. Und doch liebe ich es. Wenn ich es sehe, muss ich an Pfannkuchen mit Schokolade denken. Ich lege mich wieder hin und ziehe die Bettdecke über den Kopf.
    Um neun Uhr kommen Tess und Benjy. Tess bringt noch mehr Brandy mit. Sie schenkt drei Gläser voll.
    Dad ist noch nicht nach unten gekommen. Mum kippt den Weinbrand hinunter. Sie hat eine Sonnenbrille aufgesetzt, aber niemand sagt etwas dazu. Benjy hat eine schwarze Hose und ein weißes Hemd an, sein Seitenscheitel ist ungewohnt und passt irgendwie nicht zu ihm.
    Wenn er gestorben wäre, hätte Sam seine Kleider anziehen können. Wenn ich gestorben wäre,
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