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Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Wen liebst du, wenn ich tot bin?

Titel: Wen liebst du, wenn ich tot bin?
Autoren: Arena
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Die Nacht bricht herein und ich komme mir wie eine Verräterin vor, aber ich kann nur an Trick denken.
    Ich sehe seine ungewöhnlichen Augen vor mir, seinen Blick, als Sam auf dem Boden liegt. Ich sehe seine Brust, seinen Bauch mit den vielen Verletzungen und seinen Gesichtsausdruck, als er vor meinem Fenster steht und mir sagt, dass er das alles nicht gewollt hat.
    Je weiter ich zurückdenke, desto schmerzlicher ist es, aber ich kann nicht anders. Ich erinnere mich an ihn, wie er mit seiner roten Weste neben mir liegt, wie er mir in seiner ernsten Art und Weise zuhört. Ich stelle ihn mir vor, wie er sich hier in der Dunkelheit versteckt hält, während seine Mum und sein Dad nach ihm rufen. Wie Sams Blut an seinen Händen trocknet. Wie viel Schmerz er erlitten haben muss.
    Bestimmt wird er für ein paar Jahre ins Gefängnis gehen. Er hat einen Ziegelstein genommen und einem Menschen den Schädel damit eingeschlagen – und jetzt habe ich keinen Bruder mehr.
    Die Sterne kommen heraus und ich betrachte sie, bis sie anfangen zu funkeln und größer werden und dann wieder kleiner werden. Ich erinnere mich an Sams Gesichtsausdruck, als ich seine Wunden am Küchentisch ausgewaschen habe und er mich vor Trick gewarnt hat.
    Ich wünschte, er wäre hier und würde großspurig tun und es mir unter die Nase reiben, um dann zu sagen, dass es ihm gut geht und alles in Ordnung ist. Ich möchte mit ihm streiten, möchte ihm sagen, dass sie Trick in die Ecke gedrängt haben, dass sie niemals auf ihn hätten losgehen dürfen. Plötzlich höre ich seine Stimme.
    Aber jemandem einen Ziegelstein überziehen, Pilli? Das ist totaler Mist.
    »Punky hat jemanden mit dem Messer verletzt!«, sage ich laut. »Wo ist da der Unterschied?«
    Ich denke an Tricks Lippe, sie ist aufgeplatzt, das Ohr ist oben eingerissen, und an das blutige Taschentuch in seiner Hosentasche. Ich denke an Sams Haar, das mit Blut verklebt ist, und mir tut es leid, dass ich zärtlich zu Trick war. Und dann kehre ich wieder zurück zu dem unauslöschlichen Ereignis, das der Anfang und das Ende eines jeden Gedankens ist. Denn es ist völlig egal, ob ich zärtlich zu Trick war oder nicht oder ob ich Dad von Punkys Messer erzählt habe.
    Weil Sam niemals wieder zurückkommen wird.
    An Fiasco geschmiegt liege ich im Maisfeld, weiß nicht, ob ich wache oder schlafe, Wärme wechselt sich mit Kälte im Herzen ab – und plötzlich ist Fiasco fort und Mum steht über mir. Die Sonne scheint durch ihre kurzen Haare, die wirr abstehen, was sicher nichts mit Mode zu tun hat, und ihre Augen sind angeschwollen und entzündet. Über Sams Kleidern trägt sie Dads Wachsjacke, obwohl es schon recht heiß ist.
    Fiasco wedelt treulos mit dem Schwanz, sie kommt und leckt mir übers Gesicht.
    »Armes, altes Mädchen, sie hatte einen Bärenhunger«, sagt Mum. Ihre Stimme klingt hohl. »War sie die Nacht hier draußen bei dir? Sie hat gerade eine ganze Dose Futter gefressen.«
    Mum gibt mir einen Apfel und holt Dads Proviantflasche aus der Tasche, dann setzt sie sich in die Ecke, in der Trick immer saß. Sie schenkt heiße Schokolade ein. Ich weiß nicht, wer sie ist. Ihr Gesicht gibt nichts preis.
    »Ich hab Brandy reingetan«, sagt sie beinahe entschuldigend und hält mir die Verschlusskappe hin. Ich nehme sie und staune darüber, wie die milchig braune Flüssigkeit in der Tasse strudelt und wie der Dunst aufsteigt, und ich kann es nicht fassen, dass Sam niemals wieder etwas so Köstliches schmecken wird.
    »Es war falsch von uns. Ich hätte dich das nicht fragen dürfen. Dein Vater hat recht. Es hätte keinen Unterschied gemacht. Wenn du es mir gesagt hättest. Wenn ich zurückgekommen wäre. Niemand wusste, dass Sam sterben würde. Wie hätte man das auch wissen sollen? Es ist ja auch so sinnlos.«
    Sie nimmt die Trinkkappe, füllt sie nach und gibt sie mir wieder. Sie nippt an einer kleinen Flasche Schnaps, die in Dads Jackentasche steckt. Sie zittert am ganzen Körper.
    »Er ist jetzt wütend auf dich, Iris, aber er wird es dir nicht nachtragen. Mir vielleicht. Aber dir nicht. Er liebt dich.«
    Warum ist er dann nicht hier?, will ich sie fragen, aber meine Zunge ist angeschwollen und dick wie eine Natter. Ich bringe kein Wort hervor.
    »Er liebt mich auch, schätze ich.« Sie schüttelt den Kopf. »Nein, ich bin mir sogar sicher. Er weiß manchmal nur nicht, wie er … Er liebt dich und deinen Bruder so sehr. Als du auf die Welt gekommen bist, hat er geweint. Er konnte sein Glück gar
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