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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition)
Autoren: Maggie Stiefvater
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Händen gehalten hatte, fremdartig und geschmeidig. Ihre donnernden Hufe, das Gewicht ihrer aneinandergepressten Leiber ließen den Boden erzittern wie ein erneutes Erdbeben. Am Pentagramm angelangt, teilte sich die schnaubende Herde.
    Neben ihr raunte Ronan einen leisen Fluch. Gansey, der sich von innen an den warmen Stamm des Baums drückte, wandte den Kopf ab, als könnte er den Anblick nicht ertragen.
    Dann riss der Baum sie fort in eine Vision.
    Es war Nacht. Funkelnde Reflexe legten sich auf nassen, dampfenden Asphalt, versahen Ampeln mit roten und grünen Lichthöfen. Der Camaro stand am Bordstein, Blue saß auf dem Fahrersitz. Es roch durchdringend nach Benzin. Sie erhaschte einen Blick auf das Polohemd ihres Beifahrers – es war Gansey. Er beugte sich über den Schalthebel zu ihr herüber, legte die Finger auf ihr entblößtes Schlüsselbein. Sein Atem war warm auf ihrer Haut.
    »Gansey«, warnte sie ihn. Sie fühlte sich so unberechenbar, so gefährlich.
    »Ich will nur so tun als ob«, sagte Gansey und seine Worte hinterließen einen feuchten Hauch auf ihrem Hals. »Ich will nur so tun, als wäre es möglich.«
    Die Blue in der Vision schloss die Augen.
    »Vielleicht macht es ja nichts aus, wenn ich derjenige bin, der dich küsst«, sagte er. »Vielleicht passiert es nur, wenn du mich küsst …«
    Im Inneren des Baums bekam Blue einen Stoß, der sie abrupt aus ihrer Vision auftauchen ließ. Gerade noch rechtzeitig, um Gansey – den echten Gansey – mit geweiteten Augen aus dem Baum flüchten zu sehen.

47
    G ansey hatte sich nur einen einzigen verwirrten Blick auf die Vision gestattet – in der seine Finger aus irgendeinem Grund Blues Wange berührten –, bevor er sich aus dem Baum stürzte und dabei die echte Blue zur Seite schubste. Er musste wissen, was mit Adam passiert war, obwohl sich tief in seinem Herzen längst eine schreckliche Ahnung regte, was ihn erwarten würde.
    Und dort stand Adam in dem Pentagramm, noch immer unversehrt, die Arme locker herabhängend. In einer Hand hielt er die Pistole. Ein paar Schritte weiter lag Whelk. Er war mit Laub bedeckt, als läge er dort schon seit Jahren und nicht erst seit Minuten. Es war nicht so viel Blut zu sehen, wie man es bei einem zu Tode getrampelten Menschen erwarten würde, doch sein Körper wirkte zertrümmert. Als wären seine Gliedmaßen durcheinandergeraten.
    Adam starrte ihn bloß an. Sein Haar stand am Hinterkopf zu Berge und das war das Einzige, woran Gansey erkannte, dass Adam sich überhaupt bewegt hatte, seit er ihn zum letzten Mal gesehen hatte.
    »Adam«, keuchte Gansey, »wie bist du an die Pistole gekommen?«
    »Die Bäume«, sagte Adam. In seiner Stimme lag eine eisige Ferne, die Gansey vermuten ließ, dass der Junge, den er kannte, sich tief in sein Inneres zurückgezogen hatte.
    »Die Bäume? Oh Gott! Hast du ihn etwa erschossen?«
    »Natürlich nicht«, sagte Adam. Behutsam legte er die Pistole auf den Boden. »Damit habe ich ihn nur davon abgehalten, hier reinzukommen.«
    Entsetzen stieg in Gansey auf. »Du hast zugelassen, dass er niedergetrampelt wurde?«
    »Er hat Noah getötet«, sagte Adam. »Er hat es nicht anders verdient.«
    »Nein.« Gansey presste sich die Hände vors Gesicht. Hier lag eine Leiche, eine Leiche , ein Mensch, der kurz zuvor noch lebendig gewesen war. Sie waren nicht einmal alt genug, um sich irgendwo ein Getränk mit Alkohol zu bestellen. Wie konnten sie sich da anmaßen, über Leben und Tod zu entscheiden?
    »Du wolltest wirklich, dass ich einen Mörder hier reinlasse?«, fragte Adam.
    Gansey wusste nicht, wo er anfangen sollte, all dieses Grauen in Worte zu fassen. Er wusste nur, dass es ihn immer wieder von Neuem erfüllte, jedes Mal wenn er darüber nachdachte.
    »Er war doch gerade noch am Leben«, stammelte er hilflos. »Er hat uns gerade letzte Woche noch vier unregelmäßige Verben beigebracht. Und du hast ihn getötet.«
    »Hör auf damit. Ich habe ihn lediglich nicht gerettet. Hör auf, mir vorzuschreiben, was richtig oder falsch ist!«, rief Adam, doch auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck ebenso tiefen Elends, wie Gansey es verspürte. »Jetzt ist die Ley-Linie wach und wir können Glendower finden und alles wird so, wie es sein sollte.«
    »Wir müssen die Polizei rufen. Wir müssen …«
    »Wir müssen gar nichts. Wir lassen Whelk einfach hier verrotten, genau wie er es mit Noah gemacht hat.«
    Gansey, dem vor Kummer beinahe übel wurde, wandte sich ab. »Und das hältst du dann für
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