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Weit wie das Meer

Weit wie das Meer

Titel: Weit wie das Meer
Autoren: Nicholas Sparks
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wie immer nach dem Lesen; an einigen Stellen sah sie Tintenkleckse, als wäre die Feder beim Schreiben etwas ausgelaufen oder als wäre der Brief zu hastig geschrieben worden. Sechs Wörter waren durchgestrichen, und sie fragte sich, was er mit ihnen hatte sagen wollen. Doch das blieb ein Geheimnis, das er mit ins Grab genommen hatte. Ganz unten auf der Seite war die Schrift nur noch schwer leserlich, als hätte er die Feder zu fest gehalten.
    Als sie zu Ende gelesen hatte, rollte sie den Brief sorgfältig zusammen und wickelte den Faden wieder darum. Sie steckte ihn in die Flasche, die sie neben ihre Tasche legte. Zu Hause würde sie die Flasche wieder auf ihren gewohnten Platz auf dem Schreibtisch stellen. Nachts würde das Licht der Straße darauf fallen, so daß sie im Dunkeln schimmerte - das letzte, was sie vor dem Einschlafen sah.
    Jetzt holte Theresa die Fotos hervor, die Jeb ihr gegeben hatte. Sie hatte sie damals nach ihrer Rückkehr aus Wilmington noch einmal durchgesehen und dann, als ihre Hände zu zittern begannen, in eine Schublade gelegt und nie wieder hervorgeholt.
    Nun aber suchte sie nach ihrem Lieblingsfoto, das auf der Veranda aufgenommen worden war. Während sie es betrachtete, kamen ihr Erinnerungen an jede Einzelheit - an die Art, wie er sich bewegte, an sein Lächeln, an die kleinen Falten um seine Augenwinkel. Morgen, sagte sie sich, würde sie es vergrößern lassen und es auf ihren Nachttisch stellen, so wie Garrett es mit Catherines Foto getan hatte. Aber dann lächelte sie traurig, denn ihr wurde bewußt, daß es dafür noch zu früh war, daß sie es noch nicht ertragen würde, sein Gesicht jeden Tag zu sehen.
    Theresa hatte seit Garretts Begräbnis gelegentlich mit Jeb telefoniert. Bei ihrem ersten Anruf hatte sie ihm berichtet, warum Garrett am Tag des Unglücks mit der Fortuna hinausgesegelt war, und am Ende des Gesprächs hatten beide geweint. Aber mit der Zeit gelang es ihnen, seinen Namen ohne Tränen auszusprechen. Jeb erzählte dann, was Garrett als Kind getrieben hatte oder was er ihm über sie, Theresa, erzählt hatte.
    Im Juli flog Theresa mit Kevin zu einem Tauchkurs nach Florida. Das Wasser war warm, wie in North Carolina, aber noch sehr viel klarer. Sie blieben acht Tage, gingen morgens tauchen und erholten sich nachmittags am Strand. Es gefiel ihnen so gut, daß sie auf dem Rückweg nach Boston beschlossen, im nächsten Jahr wieder hinzufahren. Zu seinem Geburtstag wünschte sich Kevin das Abonnement eines Tauchermagazins. Ironischerweise enthielt die erste Ausgabe einen Artikel über das Wracktauchen vor den Küsten North Carolinas und ein Foto von einer Stelle, wo sie selbst getaucht waren.
    Seit Garretts Tod war Theresa nicht mehr ausgegangen. Kollegen, mit Ausnahme von Deanna, versuchten ständig, sie mit irgendwelchen Männern zusammenzubringen, mit Männern, die sie als attraktiv und interessant anpriesen - Theresa aber lehnte jede Einladung höflich ab. Hin und wieder hörte sie einen ihrer Kollegen flüstern: »Ich verstehe einfach nicht, warum sie es nicht noch einmal versucht.« Oder: »Sie ist doch noch jung und alles andere als häßlich.« Menschen mit mehr Einfühlungsvermögen meinten, Theresa werde schon irgendwann darüber hinwegkommen.
    Was sie nun wieder nach Cape Cod geführt hatte, war ein Anruf von Jeb vor drei Wochen. Während er ihr mit ruhiger Stimme erklärte, es sei an der Zeit weiterzuleben, begannen die Schutzwälle, die sie um sich errichtet hatte, einzustürzen. Sie weinte fast die ganze Nacht, doch am nächsten Morgen wußte sie, was zu tun war. Sie traf die nötigen Vorbereitungen für eine Reise nach Cape Cod - was nicht schwer war, da die Saison längst zu Ende war. Und damit begann endlich ihre Heilung.
    Als sie nun am Strand stand, sah sie sich nach allen Seiten um, ob niemand sie beobachtete - aber weit und breit war kein Mensch zu sehen. Nur das Meer schien sich zu bewegen, und sie fühlte sich von seiner Heftigkeit angezogen. Es sah wild und gefährlich aus - nicht mehr friedlich und romantisch wie damals. Sie blickte so lange auf die Wellen, in Gedanken an Garrett, bis sie Donnergrollen vernahm.
    Der Wind nahm zu, und ihre Gedanken trieben mit ihm dahin. Warum, fragte sie sich, hatte alles so enden müssen? Sie verstand es nicht. Es gab so vieles, was sie hätte ungeschehen machen wollen, so vieles, was sie bereute.
    Und wie sie so in Gedanken versunken dastand, wußte sie, daß sie ihn liebte. Daß sie ihn immer lieben würde. Sie
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