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Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Weinzirl 04 - Gottesfurcht

Titel: Weinzirl 04 - Gottesfurcht
Autoren: Nicola Förg
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sollte. Dann entdeckte er eine Tür mit
Klingel, und da hing ein Beutel mit einem Zettel, den das abendliche Nebelnass
schon ziemlich aufgeweicht hatte. Die verschwommene Schrift besagte: »Willkommen.
Schlüssel im Beutel. Ihre Wohnung ist hinter der Brücke.«
    Aha! Gerhard parkte
seinen Bus irgendwo am Rande des Innenhofs und ging über die Brücke retour. Die
Nacht war stockfinster, das Flüstern der Eiben war hier in einen röhrenden Wind
übergegangen, der durch den angrenzenden Wald pfiff. Von der Straße, die hinter
einem gewaltigen Wall lag, hörte man Autos vorbeibrausen. Gerhard sah sich um.
Links lag die Einfahrt, nach rechts führte ein steiniger Forstweg ums Haus
herum, und von dort unten kam ein Lichtschimmer. Wie ein Blinklicht. Gerhard
folgte dem Weg, stolperte über einen dicken Stein. Das Licht kam näher, es
zuckte über einer Tür. Anscheinend eine Solarleuchte, die zu wenig Sonne
abbekommen hatte und nur noch zu müden Zuckungen in der Lage war. Der Schlüssel
passte in die Tür, und Gerhard betrat sein neues Heim. Es roch ein bisschen
muffig, schien aber frisch renoviert zu sein. Es war, wie nennt man das?,
fragte sich Gerhard, teilmöbliert, semibestückt. Aber es gab ein Bett mit einer
guten, harten Matratze. Und einen Kühlschrank. Jemand hatte seinen Kühlschrank
gefüllt, mit Brot, Käse und Wurst, Bier und einer Flasche Lugana. Er machte
sich zwei Brote, und dann warf er sich auf das Bett, das jemand netterweise
auch überzogen hatte.
    Gerhard fühlte sich
wie im Zeitraffer und hatte bisher nur Eindrücke konsumieren können. Zum
Verarbeiten war keine Zeit gewesen. Der verbenlose Baier. Die rote Sandy. Frau
Kassandra. Diese Raunächte. Der leblose Mann, der zache Tropf. Dieser Johann
Draxl, Kind armer Eltern, beliebt und bodenständig. Draxl, über den er gar
nichts wusste, nur dass er tot war.
    *
    Fuizbuam
Sommer 1949
    Hansl leierte. Er,
dessen Stimme sonst so schön moduliert war. Er, der seine Zuhörerschaft
spielend leicht in seinen Bann schlagen konnte. Er leiert wirklich, dachte
Karli, und er spricht extrem langsam. Dann setzte Hansl sich und sah den
Pfarrer unverwandt an.
    Das Gesicht des
Herrn Pfarrers war gerötet. An seiner Schläfe zuckte eine Ader.
    »So ein Geleier,
Bua. So erweist man dem Herrn keine Referenz. Los, sag die Zehn Gebote nochmals
auf, aber richtig.«
    Hansl erhob sich
wieder und ratterte die Gebote des Herrn in Affengeschwindigkeit herunter,
diesmal so laut, dass man’s wohl am Bahnhof noch hören konnte. Hansls donnernde
Zehn Gebote waren aber absolut fehlerfrei aufgesagt.
    Die Ader an der
Schläfe des Pfarrers schwoll an. Er schnappte ein paarmal nach Luft, dann riss
er seinen schweren Körper förmlich zu Karli herum.
    »Los, Laberbauer,
ich will die Zehn Gebote anständig hören.«
    Karli stand auf und
begann. Er verhaspelte sich. Auswendig lernen war für ihn das Schlimmste. Er
konnte sich Inhalte merken, aber nie den genauen Wortlaut.
    Der Pfarrer
unterbrach ihn. »Du hast nicht gelernt!«, donnerte er.
    »Doch, hab ich!«
    »Nein! Weiter!«
    Karli fuhr fort und
machte den nächsten Fehler.
    »Saukrüppel! Du hast
nicht gelernt.«
    »Doch!« Tränen
begannen sich in seinen Augen zu stauen. Er hatte gelernt. Aber alles war wie
weggeblasen. Er wollte nicht weinen. Er wollte nie weinen, schon gar nicht vor
dem Pfarrer.
    »Von vorne!«
    Karli stotterte los.
    »Du hast nicht
gelernt. Lüg den Herrn nicht an.« Der Pfarrer machte eine dramatische
Handbewegung in Richtung Kreuz.
    »Doch! Ich hab
gelernt.«
    »Nein, gib es zu.«
    Es wurde still, und
dann flüsterte Karli: »Ich habe gelogen.«
    Triumphierend wandte
sich der Pfarrer ab. Karli schluckte die Tränen hinunter. Der Schmerz, der sein
Herz überschwemmte, war grenzenlos. Anders als der, den er empfunden hatte, als
die Axt in sein Handgelenk gefahren war. Anders als der, wenn die Mutter ihn
ausschimpfte für etwas, das die Schwester getan hatte. Aber es war ja seine
Schwester, das Annerl, das geliebte. Es war ein anderer Schmerz, einer, der
eine Kerbe in sein junges Herz schlug. Eine, für die es keine Heilung gab.
    Als sie später
zusammen standen, sagte Pauli: »Jetzt hast du wirklich gelogen. Du hast etwas
zugegeben, was nicht stimmt. Du hast gelernt. Ich war dabei. Du hast gelernt.«
    Der kleine Schorschi
hatte eine Haselrute in der Hand. Er zeichnete Kreise in den sandigen Boden.
Plötzlich hieb er so in den Boden, dass die anderen zusammenfuhren. »Das ist
ungerecht. Will das der Herr?«
    Die
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