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Weihnachtsengel gibt es doch

Weihnachtsengel gibt es doch

Titel: Weihnachtsengel gibt es doch
Autoren: S Wiggs
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passiert war, oder wussten von den Folgen, die der Vorfall für die Stadt gehabt hatte.
    Eine reiche Familie, die um den Wert der Bibliothek wusste, spendete das Geld für den Wiederaufbau. Aus behauenen Steinen gebaut, war das neue Gebäude nahezu feuerfest, und die neue „Freie Bücherei von Avalon“ hatte nun schon beinahe hundert Jahre kommen und gehen sehen. Zeiten wachsenden Wohlstands und bitterer Armut, Krieg und Frieden, soziale Unruhen und Harmonie. Die Stadt hatte sich verändert, die Welt hatte sich verändert. Die Menschen kannten einander nicht mehr. Und doch gab es ein paar Konstanten, die alles zusammenhielten. Und eine davon war die Bücherei. Zumindest im Moment.
    Er seufzte. Sein Atem gefror in der Luft, als die alten Erinnerungen auf ihn einstürmten, so verstörend wie ein nicht zu Ende geträumter Traum. Vor all diesen Jahren war die erste Bibliothek zerstört worden. Nun drohte ihrer Nachfolgerin Gefahr. Nicht durch Feuer, aber durch etwas genausoSchlimmes. Vielleicht blieb noch ausreichend Zeit, sie zu retten.
    Das Gebäude hatte rundherum hohe Fenster, und ein Oberlicht über dem Innenhof flutete die Räume mit Licht. Durch die Fenster konnte er die alten, aus Eichenholz erbauten Bücherregale sehen, die Tische und Arbeitsnischen, in denen die Menschen über den Lesestoff gebeugt saßen. Durch ein anderes Fenster sah er den Bereich für die Mitarbeiter.
    Im Inneren, an einem überladenen Tisch, saß eine Frau im Licht einer Schreibtischlampe. Ihr blasses Gesicht war von einer tiefen Sorge gezeichnet, die schon an Verzweiflung grenzte.
    Sie stand abrupt auf, als hätte sie sich gerade an etwas erinnert, und strich mit den Händen die Vorderseite ihres braunen Rocks glatt. Dann schnappte sie sich ihren Mantel von einem Haken und rüstete sich gegen die schnell einfallende Kälte – gefütterte Stiefel, Schal, Mütze, Handschuhe. Trotz der vielen Besucher schien sie abgelenkt und sehr einsam zu sein.
    Die scharfe, trockene Kälte drängte ihn in Richtung Eingang, der von einem großen Steinbogen umrahmt wurde, in den weise Sprüche hineingemeißelt worden waren. Er blieb stehen, um die Worte der Gelehrten zu studieren – Plutarch, Sokrates, Judah Ibn Tibbon, Benjamin Franklin. Doch auch wenn die weisen Worte durchaus ansprechend waren, hatte der Junge keinen anderen Wegweiser als sein Herz. Es war an der Zeit loszulegen.
    Beinahe wäre die Frau in ihn hineingerannt, als sie mit gesenktem Kopf durch die schwere Eingangstür eilte.
    „Oh“, sagte sie und trat einen Schritt zurück. „Oh, tut mir leid. Ich habe dich nicht gesehen.“
    „Ist schon gut“, sagte der Junge.
    Irgendetwas in seiner Stimme ließ sie innehalten. Sie musterte ihn einen Moment durch die dicken Gläser ihrer Brille.Er versuchte sich vorzustellen, was sie wohl sah, wenn sie ihn anschaute – ein Junge von nicht ganz sechzehn Jahren, mit ernsten dunklen Augen, olivfarbener Haut und Haaren, die schon viel zu lange keine Schere mehr gesehen hatten. Er trug eine grünliche Cargojacke aus dem Armyshop und eine locker sitzende Latzhose, die abgetragen, aber sauber war. Die Winterkleidung verdeckte seine Narben, zumindest zum größten Teil.
    „Kann ich dir helfen?“, fragte sie leicht atemlos. „Ich bin gerade auf dem Weg nach Hause, aber …“
    „Ich glaube, ich finde das, was ich suche, alleine“, sagte er.
    „Die Bücherei schließt heute um sechs“, informierte sie ihn.
    „Ich brauche nicht lange.“
    „Ich glaube nicht, dass wir uns schon mal begegnet sind“, sagte sie. „Ich versuche, alle meine Besucher kennenzulernen.“
    „Ich heiße Jabez, Ma’am. Jabez Cantor. Ich bin … neu hier.“ Das war keine wirkliche Lüge.
    Sie lächelte, auch wenn ihre Augen immer noch von Sorge überschattet waren. „Maureen Davenport.“
    Ich weiß, dachte er. Ich weiß, wer du bist. Er verstand ihre Wichtigkeit, auch wenn sie selber nichts davon ahnte. Sie hatte so viel getan, hier, in dieser kleinen Stadt, und vermutlich wusste sie es nicht einmal.
    „Ich bin die Bibliothekarin hier“, erklärte sie. „Ich würde dich gerne herumführen, aber ich muss noch woanders hin.“
    Das weiß ich auch, dachte er.
    „Wir sehen uns ein andermal, Jabez“, sagte sie.
    Ja, dachte er, als sie davoneilte. Das werden wir.

2. KAPITEL
    Z ügigen Schrittes erreichte Maureen Davenport die Bäckerei. Ihre Wangen brannten nach dem kurzen Spaziergang von der Bücherei hierher. Auch wenn sie die leicht beißende Kälte mochte, war sie
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