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Weihnachten mit Mama

Weihnachten mit Mama

Titel: Weihnachten mit Mama
Autoren: Alex Thanner
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mein Ressort; er gab erleichtert ab, das war ihm anzusehen. Und nur ein Vertrauter würde erkennen, dass Mama auf der Panikleiter bereits ein paar Stufen hochgeklettert war, so erhitzt waren ihre Wangen.
    »Johannes!«, rief sie und breitete die Arme aus.
    »Hallo, Mama …«, murmelte ich in ihr sorgsam frisiertes und nach pudrigem Parfüm duftendes Haar. »Was ist denn eigentlich los?«
    Sie schaute mich erstaunt an: »Wieso, was soll denn los sein? Na, jedenfalls bin ich froh, dass du schon hier bist. Warum hast du nicht auch Julie mitgebracht?« Sie umarmte mich, sie küsste mich, sie hielt mich auf Abstand und blickte mir strahlend ins Gesicht. »Gut schaust du aus!« Sie rieb sich die Hände – das macht sie immer, wenn sie sich freut – und stürzte davon. »Hier sind schon die Engel am Werk, weißt du …«, rief sie mir über die Schulter zu.
    Weißt du. Ich war noch keine Minute im Haus, und schon ging’s los mit dem ewigen »Weißt du?« Die meisten Menschen haben ein rhetorisches Mantra, das sich irgendwann in ihr Sprachprogramm geschlichen hat und dann unauslöschbar wurde. Ein befreundeter Verleger hat es sich angewöhnt, in jedem Satz, den er spricht, ein »letztlich« unterzubringen. Wirklich in jedem! Und wenn es ihm einmal gelingt, einen Satz ohne dieses Wort zu vollenden, setzt er ein völlig unnötiges »letztlich« an den Schluss. Sozusagen hinter den Punkt.
    Mamas rhetorisches Mantra ist: »Weißt du?« Oder in leicht unduldsamer Nuance: »Verstehst du?« Nach jedem zweiten Satz, den sie ausspricht, vergewissert sie sich mit dieser Zwei-Wort-Frage, dass sie es nicht mit einem Vollidioten, sondern mit einem Gesprächspartner von halbwegs aufnahmefähiger Intelligenz zu tun hat. Mit jemandem, der alles, alles, alles, was sie sagt, versteht. Versteht und akzeptiert.
    Robert sagt immer: »Ich kann’s kaum erwarten« – bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit. Onkel Bernhard trompetet ständig: »Aber hallo!« Mindestens hundertmal am Tag. Laura liebt es, »Pillepalle« zu Petitessen zu sagen, oder »patati patata«, wie das überspannte Töchterchen in dem Film Die oberen Zehntausend . Tina hustet mehr, als dass sie spricht, aber wenn sie was sagt, gelingt es ihr fast immer, ein heiseres »Ja, Waaahnsinn!« unterzubringen. Nur Papa hat kein rhetorisches Mantra, das heißt, eigentlich hat er doch eines. Er antwortet nämlich immer auf Mamas »Weißt du?« mit einem ergebenen »Ja, ich weiß.« Was soll er auch sonst sagen? Auf Mamas Fragen nicht zu antworten, wird mit dem Tode bestraft. Dagegen ist es völlig akzeptabel, Dorles ständiges »Hallo? Haaallooo!«, das sie allem, was sie erstaunt oder empört, folgen lässt, sozusagen ohne Resonanz zu lassen. Ist sowieso klar, dass Dorle davon ausgeht, jeder sei mit ihr einer Meinung.
    Als ich das Wohnzimmer – von Mama stets nur Salon genannt – betrat, war mir sofort klar, was Papa in Panik versetzt hatte: Überall lagen Zettel mit To-do- Listen, so lang wie Kassenzettel vom Supermarkteinkauf, der riesige Christbaum stand im Plastiknetz bestrumpft und noch ungeschmückt in der Ecke. Ein großer Tisch, der ausgezogen nicht weniger als sechzehn Personen Platz bieten kann, nahm die Mitte des Raums ein. Kisten mit Weihnachtsdekoration waren daneben gestapelt. Eines der »guten Services« war bereits hervorgeholt worden, versank jedoch fast vollständig in einem Tornado aus Geschenkpapier, Schleifen, Päckchen, Dekoration, Weihnachtspost. Vierzig Quadratmeter Christkindlland, ein Showroom von Käthe Wohlfahrt aus Rothenburg ob der Tauber mitten in Schwabing. Tina hätte gehustet und nur »Waaahnsinn!« gerufen.
    »Mama … kommst du klar?«, fragte ich zögernd, als ich mich fassungslos im Reich der Weihnachtswichtel umschaute. Man würde zwei Tage brauchen, überhaupt nur den Teppich wieder sichtfrei zu bekommen. Die Weihnachtswichtel würden Großeinsatz haben. Feierabend gestrichen, liebe Zwerge. Wir machen durch!
    »Aber ja, Buberl … mach dir keine Gedanken! Du hast eine weihnachtserprobte Mama, weißt du!«
    Buberl! Wenn ich eines hasse, dann diesen mütterlichen Kosenamen, der mit so viel Zärtlichkeit und Liebe ausgesprochen wird, dass ein Dominostein dagegen herb schmeckt. Aber gegen Buberl! bin ich machtlos. Längst habe ich jede Gegenwehr aufgegeben, seit Jahrzehnten schon. Ich würde immer das Buberl sein, der erstgeborene Sohn, auf den sich die mütterliche Liebe ungetrübt und hemmungslos richtet. Manchmal beneide ich Robert
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