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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Autoren: C. E. Lawrence
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Ponyfransen zu ihm herüber.
    »Sie sind wahrscheinlich wahnsinnig gespannt darauf, warum ich hier bin.«
    Wieder diese Überdramatisierung des Narzissten. »Ja, das interessiert mich schon«, sagte er ruhig.
    Sie schaute sich im Zimmer um, trank noch ein paar Schlucke und beugte sich dann vor.
    »Ich habe kürzlich herausgefunden, dass … dass ich sexuell missbraucht wurde. Ich hatte die Erinnerung daran verdrängt.«
    Ein Dutzend Fragen schossen ihm durch den Kopf. »Tatsächlich?«, erkundigte er sich knapp.
    »Erst war ich mir nicht ganz sicher. Ich hatte nur diesen immer wiederkehrenden Traum, wissen Sie, also suchte ich mir jemanden, der auf verdrängte Erinnerungen spezialisiert ist. Ich bin seit ungefähr einem Jahr bei ihm in Therapie. Und eines Tages wachte ich dann auf und wusste Bescheid.«
    Lee überlegte, was er am besten darauf antworten sollte. Er hielt solche angeblich verdrängten Erinnerungen nicht unbedingt für verlässlich. Obwohl es sich bei dem Phänomen wissenschaftlich nachweisbar um eine mögliche Reaktion auf ein Trauma handelte, waren die sogenannten »Spezialisten« auf diesem Gebiet oft nichts weiter als Scharlatane. Durch subtile Suggestion und gewisse Formen der Hypnose brachten sie den Patienten dazu, sich für ein Opfer satanischer Rituale zu halten oder sich an eine Entführung durch Außerirdische zu erinnern.
    In Anas Fall hingegen hätte sexueller Missbrauch tatsächlich einiges erklärt: ihre Angriffslust gepaart mit der mädchenhaften Attitüde, ihre manipulative Art und versteckte Aggression Männern gegenüber, ihre kindliche Gefühlswelt. Allerdings gab es für all das auch andere denkbare Erklärungen. Und während der Therapie bei ihm war über einen Missbrauch nie ein Wort gefallen.
    »Wann war das?«, wollte Lee wissen.
    »Ich habe noch nicht wieder alle Einzelheiten präsent. Ich glaube, ich war noch ein Kind, und dass der Täter jemand ist, den ich kannte.«
    »Aber sicher sind Sie sich nicht?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann mich noch nicht an sein Gesicht erinnern. Aber Dr. Perkins – mein Therapeut – meint, das wäre nur eine Frage der Zeit.«
    »Warum kommen Sie damit jetzt zu mir? Dr. Perkins scheint sein Handwerk doch zu verstehen.« Was genau Perkins’ Handwerk eigentlich war, stand auf einem anderen Blatt, aber Lee hatte nicht vor, sich jetzt in diese Untiefen zu begeben. Aus kollegialem Respekt wollte er die Kompetenz des Mannes nicht gleich aufgrund derart spärlicher Informationen in Zweifel ziehen.
    Ana umklammerte den Henkel ihres Bechers fester.
    »Ich … ich habe Angst.«
    »Wovor?«
    »Vor allem und jedem. Ich werde einfach dieses Gefühl nicht los, dass irgendetwas Schlimmes passieren wird.«
    »Gibt es dafür einen besonderen Anlass? Könnte es sich dabei nicht lediglich um eine Reaktion auf …«, er zögerte kurz, »… die Erinnerung an den Missbrauch handeln?«
    Sie schaute stirnrunzelnd in ihren Becher, als wäre darin auf einmal kein Kaffee, sondern Essig.
    »Das meint Dr. Perkins auch.«
    »Und was glauben Sie?«
    Sie stand auf und begann ruhelos auf und ab zu gehen.
    »Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Ich bin nervös. Ich kann nicht schlafen. Ich erwarte hinter jeder Häuserecke einen potenziellen Angreifer. Aber das ist nicht alles. Ich … also, ich habe das Gefühl, dass mich jemand verfolgt.«
    »Sind Sie sicher, dass Sie nicht einfach nur …«
    »Nein, eben nicht, das ist es ja. Ich habe wirklich das Gefühl, beobachtet zu werden.«
    »Wie kommen Sie darauf?«
    Sie setzte sich wieder in den Sessel, schlang die langen Arme um ihren schmalen Oberkörper und wiegte sich mit aufeinander gepressten Lippen vor und zurück. Jetzt tat sie Lee doch leid. Sie wirkte auf einmal wie ein schrecklich verlorenes kleines Mädchen, und er wollte gern alles tun, damit es ihr besser ging. Sofort schrillten die Alarmglocken in seinem Kopf: Aufpassen, Campbell! Du hast es hier mit jemandem zu tun, der sich blendend darauf versteht, Menschen zu manipulieren!
    Er lehnte sich zurück und trank noch einen Schluck Kaffee.
    Ana sah ihn schwermütig an: »Es sind komische Sachen passiert. Sachen, die mir Angst machen.«
    »Was denn zum Beispiel?«
    »Manchmal klingelt das Telefon, und wenn ich abnehme, wird aufgelegt. Und einmal habe ich mein Auto abgeschlossen, bin einkaufen gegangen, und als ich zurückkam, war die Wagentür offen.«
    »War etwas gestohlen?«
    »Nein, aber mir kam es so vor, als wäre jemand im Auto gewesen.«
    »Was ist
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