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Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Wehe Dem, Der Gnade Sucht

Titel: Wehe Dem, Der Gnade Sucht
Autoren: C. E. Lawrence
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Hände und pustete darauf.
    Wieder eine Forderung. Lee war wirklich erleichtert, dass er sie nicht mehr behandeln musste. Er hatte sich immer bemüht es zu verbergen, wenn er einen seiner Patienten nicht mochte. Und dass so etwas durchaus vorkam, war eines der weniger schönen Geheimnisse therapeutischer Arbeit. Hatte seine persönliche Abneigung der Arbeit mit einem Patienten geschadet, fand er immer einen Vorwand, um ihn an einen Kollegen zu verweisen. Im Fall von Ana Watkins war ihm das Ausmaß seiner Abneigung gegen sie allerdings erst nach der letzten Sitzung mit ihr vollends klar geworden.
    »Ich kann einen machen«, antwortete er auf ihre Frage. Angesichts ihrer zitternden Hände und ihres gehetzten Blicks bezweifelte er allerdings sehr, dass Kaffee im Moment wirklich das Richtige für sie war.
    »Schon gut – nicht nötig, ich komme auch so klar«, versicherte sie übertrieben dramatisch, als ginge es nicht um Kaffee, sondern um ein lebensrettendes Medikament.
    »Das macht gar keine Umstände«, versicherte Lee. Die erste Runde in dieser Manipulationsschlacht sollte nicht an sie gehen – sie wollte Kaffee, und den würde sie nun auch bekommen.
    Statt sich zu bedanken, warf sie ihren winzigen roten Lederbeutel über die Lehne eines Sessels, auf dem sie ganz selbstverständlich Platz nahm, als wäre sie hier zu Hause und nicht Lee. Und natürlich musste es ausgerechnet sein Lieblingssessel sein – den sie sich wahrscheinlich genau deshalb instinktiv ausgesucht hatte.
    »Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause, Ana«, sagte er sarkastisch. Dann ging er in die Küche und war froh, dass er kurz Gelegenheit hatte, seine Gedanken zu ordnen und sich für diese bestimmt ziemlich anstrengende Unterhaltung zu wappnen. Bei Ana Watkins war er als Therapeut komplett gescheitert.
    Sie war außerdem die erste Patientin gewesen, die versucht hatte, ihn zu verführen.
    Noch dazu hatte sie es sehr, sehr hartnäckig versucht – beinahe mit Erfolg. Und nun saß sie gemütlich im Wohnzimmer auf seinem Lieblingssessel und führte Gott weiß was im Schilde. Normalerweise hatte er keine Angst vor seinen Patienten – auch nicht vor den gewalttätigen. Bei Ana Watkins war das anders. Sie hatte etwas an sich, eine versteckte bösartige Bedürftigkeit, die ihre Behandlung für ihn sehr schwierig gemacht hatte. Selbst ihre Verführungsversuche waren mehr eine Eroberungsschlacht gewesen, eine offene Kriegserklärung.
    Während die Kaffeebohnen in der Krupsmühle lärmten, überlegte er, weswegen sie wohl hier war, und ob sie die Wahrheit darüber sagen oder ihm lediglich ihre Version davon präsentieren würde.
    Die Kaffeemühle schaltete sich aus. Was Ana wohl gerade im Wohnzimmer trieb? Lee legte den Filter in die Maschine, füllte den Kaffee ein, goss Wasser in den Behälter, drückte den Schalter und schlich sich ins Wohnzimmer.
    Und richtig, sie stand vorm Bücherregal und hatte einen dicken Gedichtband in der Hand. Wie viele Narzissten hatte auch sie Probleme damit, Grenzen einzuhalten: So konnte sie zum Beispiel nicht zwischen Mein und Dein unterscheiden. Als er hereinkam, drehte sie sich lächelnd um, wobei ihr eine blonde Haarsträhne in die Stirn fiel. Lee hielt es durchaus für möglich, dass sie diesen Augenblick tatsächlich genauso geplant hatte. Wenn sie den Kopf in diesem bestimmten Winkel hielt, würde die Strähne ihr ins Gesicht mit den blassblauen Augen fallen, und dann musste sie den Eindruck nur noch mit einem auffordernden Lächeln verstärken.
    »Viele Gedichtbände«, stellte sie noch immer lächelnd fest.
    »Ich mag Lyrik.« Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er sich ärgerte.
    »Sieht so aus«, sagte sie und stellte das Buch zurück an seinen Platz im Regal.
    Wieder in der Küche schenkte Lee zwei dampfende Tassen Kaffee ein. Zusammen mit dem Sahnekännchen und der Zuckerdose aus Kristall – ebenfalls Geschenke seiner Mutter – stellte er sie auf ein Tablett und kehrte damit ins Wohnzimmer zurück.
    »Schönes Kristall«, bemerkte Ana, gab einen Löffel Zucker in den Kaffee und ließ einen üppigen Schuss Sahne folgen.
    »Danke.« Lee nahm auf der Couch gegenüber Platz und nippte am Kaffee.
    Ana trank gierig, und wider Erwarten schien der Kaffee sie wirklich zu beruhigen. Ihr magerer Körper wirkte nicht mehr so steif und entspannte sich. Erst jetzt fiel Lee auf, wie verkrampft sie die ganze Zeit gewesen war. Sie umklammerte den Becher mit ihren dürren Fingern und sah durch die langen blonden
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