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Wehe Dem, Der Boeses Tut

Wehe Dem, Der Boeses Tut

Titel: Wehe Dem, Der Boeses Tut
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blinzeln, um die Tränen zurückzuhalten. Hier war es geschehen? Hier war ihr junges Leben aus der vorbestimmten Bahn gerissen worden, einer ungewissen Zukunft entgegen?
    Warum? Sie nagte an ihrer Unterlippe. Lieber Himmel, weshalb konnte sie sich nur nicht erinnern?

    Der Oktoberregen tropfte aus seinem Haar in den Kragen seiner Jacke. Totes Laub klebte auf dem Gehsteig, dichter Oktobernebel schien von den nassen Straßen aufzusteigen und sich an den Häuserecken zu verdichten. Autos, Lieferwagen und LKW donnerten vorüber. Ihre Scheinwerfer durchdrangen schwach den von Straßenlaternen erhellten Dunst.
    Zachary Danvers war übel gelaunt. Dieses Projekt hatte sich zu lange hingezogen, er hatte zu viel Zeit damit vergeudet. Das war es nicht wert, auch wenn er einen gewissen Stolz auf seine Leistungen empfand. Hier zu arbeiten, diese Restaurierung zu leiten gab ihm das Gefühl, ein Heuchler zu sein. Er war froh, dass die Arbeiten so gut wie abgeschlossen waren. Leise auf sich selbst, seine Brüder und vor allem auf seinen verstorbenen Vater fluchend, öffnete er die Glastür des alten Hotels. Ein Jahr seines Lebens hatte er hier verbracht. Ein ganzes Jahr – und das nur wegen eines Versprechens, das er vor ein paar Jahren am Sterbebett seines Vaters geleistet hatte. Aus Habgier.
    Bei dem Gedanken stieg es ihm säuerlich in die Kehle. Vielleicht war er dem alten Herrn doch ähnlicher, als er sich eingestehen mochte.
    Der kürzlich eingestellte Hotelmanager, ein nervöser Typ mit schütterem Haar und einem Adamsapfel, der ständig in Bewegung war, stand hinter einem langen Mahagonitresen, dem Prunkstück des Foyers, und wies einen neuen Mitarbeiter ein. Zachary hatte das geschundene Stück aus dunklem Holz in einer jahrhundertealten Kneipe in einem heruntergekommenen Haus abseits von Burnside entdeckt. Die Kneipe sollte abgerissen werden, doch Zach hatte sich entschieden, den Bartresen zu restaurieren. Die Arbeit war zeitraubend gewesen, aber nun schimmerte das einst verschrammte Mahagoni herrlich im Lampenlicht.
    Sämtliche Installationen waren durch Antiquitäten oder sehr gute Nachbildungen ersetzt worden, und nun strahlte das Hotel den authentischen Charme der 1890er aus, gepaart mit den Annehmlichkeiten der 1990er.
    Den Werbeleuten hatte diese Formulierung ausgezeichnet gefallen.
    Warum er eingewilligt hatte, das alte Hotel zu renovieren, war ihm selbst immer noch ein Rätsel. Womöglich gar aus einem latenten Familienstolz heraus. »Scheiße«, knurrte er. Er war die Stadt mit ihrem Lärm und der schlechten Luft leid, vor allem aber war er seine Familie leid oder das, was von ihr geblieben war.
    »Hey, Danvers!«, schrie sein Vorarbeiter Frank Gillette ihm von seinem Platz hoch oben auf dem Gerüst aus zu, als er ins Foyer trat. Gillette arbeitete gerade an der Verkabelung eines besonders launischen Kronleuchters. »Da sind Sie ja. Oben im Ballsaal wartet eine Frau auf Sie, schon seit über einer Stunde.«
    Zachs Augen wurden schmal. »Was für eine Frau?«
    »Hat sich nicht vorgestellt. Sie behauptet, sie hätte eine Verabredung mit Ihnen.«
    »Mit mir?«
    »Sagt sie.« Frank stieg die Leiter hinunter. »Mit mir konnte sie nicht reden, weil ich kein – wie war das – kein ›Mitglied der Familie Danvers‹ bin.«
    Frank sprang zu Boden und rieb sich den Staub von den Händen. Dann zog er ein zerknittertes Taschentuch aus der Gesäßtasche und wischte sich damit unter seinem Schutzhelm den Schweiß ab.
    Irgendwo aus der Nähe der Küche ertönte ein Scheppern, gefolgt vom Klappern von Besteck, das durch das gesamte Hotel hallte.
    »Herrgott noch mal!« Frank hob ruckartig den Kopf und warf einen erbosten Blick in Richtung Küche. »Zum Teufel mit Casey.«
    »Ist sie Reporterin?«
    »Die Frau?« Frank klopfte seine Taschen nach Zigaretten ab. »Wenn ich das wüsste. Ich sag ja, sie wollte nicht mit mir reden, weil ich kein Danvers bin. Dabei hätte ich gar nichts dagegen gehabt, mich ein bisschen um sie zu kümmern.«
    »Hübsch?«
    Frank nickte. »Allerdings.«
    »M-hm.«
    »Hören Sie, ich hab keine Ahnung, was es mit der Dame auf sich hat, aber wenn wir sie nicht gerade eigenhändig hier rauszerren wollen, haben wir ein Problem. Das Betreten des Hotels ist verboten. Wenn sie ausrutscht und sich den Hals bricht und die Aufsichtsbehörde kriegt Wind davon …«
    »Sie machen sich zu viele Sorgen.«
    »Dafür bezahlen Sie mich schließlich.« Frank fand sein verknittertes Päckchen Camel und klopfte eine
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