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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik
Autoren: T.C. Boyle
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so etwas wie Hunger in den Blicken. Können wir denn gar nichts für dich tun?
    Kurz nach der Veröffentlichung von Amadi Fatoumis Tagebuch schrieb ihr Georgie Gleg aus Edinburgh. Sein Brief war lang und ausführlich – an die dreißig Seiten voller perfekt geformter Buchstaben und mit genau abgezirkelten Rändern   –, er bot ihr Trost, Hoffnung, Geld, eine Schulter zum Ausweinen, einen Heiratsantrag. Sie sandte nie eine Antwort. Statt dessen sammelte sie alle Erinnerungen an Mungos erste Reise – den zerknautschten Zylinder, die Ebenholzfigur, deren Bauch und Beine so grausam verzerrtwaren, die drei Ausgaben seiner
Reisen –
und errichtete daraus in einer Ecke des Wohnzimmers eine Art Schrein. Fünf Stühle wurden rings um das Schaustück aufgestellt, und sie verbrachte lange Stunden damit, auf dem einen oder anderen zu sitzen, zu ihren Füßen die Kinder, denen sie laut aus den
Reisen
oder Mungos Briefen vorlas, oder sie starrte nur ins Leere, hoffte, betete, wartete auf das nächste Gerücht.
    O ja, neue Gerüchte gab es. Immer wieder. Sechs Jahre nach dem Ereignis und mehr als acht Monate, seitdem das Kolonialministerium den Fall offiziell für beendet erklärt hatte. Wie von einer geheimnisvollen, unzähmbaren Macht angezogen, fanden sie den weiten Weg an Ailies Ohren. Von der Bucht von Benin bis zu den Antillen und Carolina, von Badagri bis zu den Kanaren, bis Lissabon, Gravesend, London und Edinburgh hielt sich hartnäckig das Gerücht: Im Innern Afrikas leben weiße Männer.
    Wenn auch kein Europäer dies je erfahren sollte, lag in jenen Berichten doch ein Körnchen Wahrheit. Wenn sie irrten, so war es ein quantitativer, nicht aber ein qualitativer Irrtum – nicht weiße
Männer
lebten im tiefsten Afrika, wohl aber ein einzelner weißer
Mann
. Ein Überlebenskünstler. Ein der Öffentlichkeit gänzlich Unbekannter, eine Art Paria, ein Mann, der in Armut geboren war und der das Wunder der Wiederauferstehung erlebt hatte.
     
    Etwa sechsunddreißig Stunden nach der Katastrophe von Boussa öffnete Ned Rise die Augen und sah zum drittenmal in seinem Leben das Nirwana. Diesmal jedoch war das Paradies weder eine feuchte, nach Fisch stinkende Baracke am Themseufer noch ein Seziersaal in der Newgate Street   … es war heller, viel heller, es strahlte mit der Intensität der Tropensonne. Das letzte, woran er sich erinnerte, war das grinsende, gebleckte Gesicht des eigenen Todes, die auf ihn zurasende Felswand, der nach Blut heulende Mob, sein Ringen mit Park   …
    Und was jetzt? Ihm fehlte die Orientierung. Der ganze Körper tat ihm weh. Alle seine Gelenke brannten wie Feuer, seine Kniescheiben fühlten sich an wie zerschmettert, ein dumpfer, unerbittlicher Schmerz stach in seinem unteren Rückgrat. Hätte er den Willen aufgebracht, sich aufzusetzen und eine Bestandsaufnahme zu machen, wäre ihm aufgefallen, daß er so nackt und unbeschwert war wie am Tag der Geburt, denn den Strohhut und das zerfetzte Lendentuch hatte der Strom davongespült, und die silberne Duellpistole lag für immer im Schlamm des Nigerbetts begraben. Doch es gelang ihm nicht. Reglos blieb er liegen, und die Sonne bedeckte seinen Rücken wie eine flammende Decke.
    Seine Sicht trübte sich und wurde wieder klar. In seinen Schläfen pochte es. Er lag in einem Haufen Schutt   – Laub, Äste, Holz- und Knochensplitter – zwischen buckligen, weichen, vom Wasser geglätteten Felsblöcken, Findlingen, die in der Landschaft verstreut lagen wie die Eier vorsintflutlicher Monster. Die Luft war heiß und still wie der Atem eines schlafenden Drachen, kein Laut, keine Regung, bis sie plötzlich – brutaler Kontrast – mit dem scharrenden, harten Rasseln schlagender Flügel explodierte. Ned blickte in das unvermeidliche, schiefgelegte Gesicht eines Aasvogels, eines Geiers: die Krallen gespreizt, die Flügel ausgebreitet wie ein Baldachin. Kühn und kampflustig zischte ihn der große häßliche Grabräuber an und machte probeweise einen Schritt nach vorn. Jetzt fängt das schon wieder an, dachte Ned.
    Dann aber hüpfte der Vogel zurück, drehte den platten Hals besorgt herum und torkelte aus Neds Gesichtsfeld. Irgend etwas hatte ihn verscheucht. Hyäne? Löwe? Maniana? Ned konnte sich kaum aufraffen, darüber nachzudenken. Er starrte auf die glatt polierte Oberfläche des Felsens vor sich, ein Rinnsal Wasser spülte ihm über Beine und Unterleib, das Klatschen von Flügeln hallte inder Stille wider. Dann trat ein neuer Klang hinzu, rauh und
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