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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik
Autoren: T.C. Boyle
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freimütiger Miene und festem Blick gab Ned Lügen darauf zurück. «Das war in ’ner Fleischerei. Beim Steak-Hacken.» Oder, mit einem tastenden Griff an die vernarbte Kehle: «Ach, das da? Nicht so wild. Bin als Kind mal in ’nem Eisenzaun steckengeblieben.Da war ich erst fünf oder sechs. Sie mußten den Schmied holen, um mich zu befreien.»
    Nein, sich ins Vertrauen des Entdeckungsreisenden einzuschleichen war kein Problem gewesen. Der Mann war leichte Beute, ein ichbezogener Narr. Hätte Ned nicht schon vor vielen Monaten die Zügel in die Hand genommen, wären sie längst alle tot. Trotzdem, er nimmt es dem Mann nicht übel. Eigentlich ist er auf seine Weise ja ganz in Ordnung – immerhin hat er ein Ziel vor Augen. Von sich kann Ned das nicht behaupten. Mochte Mungo Park eingebildet, rasend vor Ehrgeiz, egoistisch, blind, inkompetent und einfältig sein – zumindest hat sein Leben einen Brennpunkt, einen Sinn. Das ist die tiefe Wahrheit, die Ned in den letzten drei Wochen des Dahintreibens unter der Sonne aus dem Erz freigelegt hat: jeder Mensch muß einen Sinn, ein seinem Leben zugrundeliegendes Prinzip haben. M’Keal hat das Saufen, Martyn seine Waffen und das Blutvergießen, Park setzt seine närrische Haut aufs Spiel, um die Landkarten neu zeichnen und seinen Namen in die Geschichtsbücher eingehen zu lassen. Und wie ist es bei ihm, bei Ned Rise? Überleben allein ist nicht genug. Überleben kann auch ein Hund, ein Floh. Es muß doch noch etwas anderes geben.
    Aber diese Vögel da. Sie bewölken das Bild, sie komplizieren die Dinge. Auf einmal knallt hinter ihm ein Schuß, und er wirbelt überrascht herum. Es war Martyn, er steht fast über ihm, in der einen Hand eine rauchende Muskete, die andere ist zur Faust geballt. Fast im selben Moment klatscht ein Geier auf das Deck. Mit einem abstehenden Flügel kommt der Vogel benommen und blutend auf die Beine und hebt den blitzenden Schnabel zu einem Zischen. Der Leutnant grinst. Im Näherkommen schwingt er den Schaft seiner Flinte wie ein Henkersbeil, und M’Keal feuert ihn an. Der Vogel hüpft ein-, zweimal in die Höhe wie ein Hahn, der einem Fuhrwerk ausweicht, dann erwischtihn Martyn quer über den Rücken. Knochen brechen, die Klauen krallen sich reflexartig in die Planken des Kanus, und Martyn schlägt noch einmal zu. Es entsteht eine kurze Stille, der Vogel liegt reglos da, und dann schnappt sich M’Keal den Kadaver   – Gefieder, Blut und Exkremente wirbeln herum – und hebt ihn sich vors Kinn. «Seht mal!» kräht er, «seht mal her: mir sind Federn gewachsen.»
    Niemand sieht hin. Etwas viel Fesselnderes als ein Schwarm Aasvögel läßt sie wie gebannt aufhorchen. Ein fernes, dumpfes Brausen, der Klang von weiß schäumendem Wasser, das auf Felsen prallt, der Klang von Wellen und Brandung und Springflut. Stromschnellen. Mungo wirft einen Blick auf die rohe Kartenskizze, die Amadi ihm in eine blanke Stelle des Rumpfs gekratzt hat, und sieht dann mit stumpfer, hilfloser Miene zu Ned auf, mit der Miene eines gefesselten Gefangenen in den Händen seiner Feinde. Seine Stimme ist leise, kaum hörbar bei dem näher kommenden Brausen – ein Wort, geflüstert: «Boussa.»
     
    Es nimmt immer mehr zu, das Getöse, umschließt sie von allen Seiten, donnert mit hohler, kehliger Resonanz, explodiert in abrupten, schallenden Klatschtönen, bis es ihnen vorkommt, als würden sie in eine Seeschlacht hineingeworfen. Binnen weniger Minuten hat sich der Fluß nach vorn geneigt, er reckt seinen Hals, wird immer schmaler, während die steilen Uferhänge plötzlich schiefstehen, aus der Senkrechten purzeln, sich in wahnwitzigem Winkel aufbäumen. Die Wasserrinne vor ihnen brodelt weiß, große Felszungen zischen unter ihnen dahin wie Knochen unter der Haut. Und beinahe unmerklich schält sich nun ein neues Geräusch aus dem verworrenen Tosen, ein schlürfender, saugender Klang, als würde eine unermeßliche Wassermenge – ein See, ein Meer – einen Abgrund hinabgerissen.
    Es bleibt keine Zeit, dagegen anzukämpfen. Kein Gedanke,sich ans Ufer zu retten, keine Chance zum Kneifen. Die einzige Hoffnung besteht darin, alles Bewegliche   – Flinten, Pulverfässer, Proviant – festzubinden und mit dem Strom zu schwimmen. Der Fluß wird nun mit jeder Sekunde rauher, zerrt aus allen Richtungen an ihnen, schleudert das Boot wie ein Hölzchen hin und her, holt es herum, als wäre es steuerlos. Ned wirft die Ruderpinne nach links und rechts, sieht aber gar nicht über
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