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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik
Autoren: T.C. Boyle
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glitzerte etwas: ein Messer? eine Flinte? War dies das Ende? War er dafür errettet worden? Doch plötzlich wurde ihm klar, was jenes glänzende, lichtschimmernde Objekt war, und er wußte, warum sie es ihm entgegenhielten, er wußte, was er zu tun hatte und wie er überleben würde. Auf einmal konnte er in die Zukunft blicken. Er war kein Verfemter, kein Verbrecher, kein Waisenkind – er war ein Messias.
    Der Alte reichte ihm die Klarinette. Sie war immer noch feucht von dem Wasserbad, aber die Filzkissen waren sauber, die Klappen unbeschädigt. Dumpf hämmerte die Trommel, schrill pfiffen die Flöten. Er hob sie an die Lippen – sie lächelten nun, scharten sich um ihn wie frühreife Kinder   –, er hob sie an die Lippen und spielte.
     
    Die Jahre schälten sich wie Zwiebelhäutchen, Schicht legte sich auf Schicht. Beau Brummell fiel in Ungnade und floh nach Calais, De Quincey aß Opium, Sir Joseph Banks und Georg   III. gaben den Geist auf. Aufstände entflammten in Manchester, Portugal und Griechenland. Beethoven wurde taub, Napoleon ging unter und kam wieder hoch und ging wieder unter, Sir Walter Scott traf im Hopfen-Skandalvon 1826 der Bankrott, Federhüte wurden wieder modern, und der Faltensaum war der letzte Schrei. Der Niger blieb ein Geheimnis.
    Krieg und Frieden, die Häuser von Habsburg und Hannover, dekolletierte Mieder und Baumwollchemisetten, der Fall eines Kaiserreichs, die Restauration einer Dynastie, Metternich, Byron, Beethoven, Keats – das alles ging an Ailie vorbei. Ebensogut hätte sie in einer anderen Welt leben können. Seit jenem Moment, da sie Georgie Gleg erlegen war und ihre Höllenvision an der Brust von Loch Ness gehabt hatte, war sie eine andere Frau. Diese Vision – war es eine Vision gewesen? – war als Warnung, als scharfer Tadel gekommen. Sie war zu weit gegangen. Neidisch und verbittert, in ihrer Auflehnung gegen die schreckliche Leere des Lebens einer Marketenderin, hatte sie Mungo den Rücken gekehrt, gerade als er sie brauchte. Sie war eine Ehebrecherin, eine Abtrünnige, sie war eine Sünderin.
    Sie verbrachte den Rest ihres Lebens damit, das wiedergutzumachen. Als sie nach Selkirk heimkam, stellte sie den Schrein im Wohnzimmer auf, versammelte ihre Kinder um sich und impfte ihnen die Legende jenes Vaters ein, den sie kaum kannten. Er war ein Held, sagte sie ihnen, einer der großartigsten Männer, die je in Schottland gelebt hatten, ein Mann, der den Gefahren so selbstverständlich trotzte, wie gewöhnliche Leute ihr Frühstück aßen. Aber wo war er? fragten sie. In Afrika, gab sie zur Antwort. Wann kommt er wieder nach Hause? Bald, sagte sie.
    Dies war ihre Buße. Der Schrein, die Legende, die Last des Alleinerziehens der Kinder. Aus Edinburgh kamen Geschenke für sie: Kämme, Kleider, Parfum, Spielzeug für die Kinder. Sie sandte sie ungebraucht zurück. Gleg schickte ihr Brief um Brief. Sie beantwortete nie einen. Und als er an ihre Tür klopfte – die Verletztheit und das Unverständnis waren tief in sein Gesicht geprägt   –, wies ihn das Dienstmädchen ab. Was habe ich getan? schrie er zu ihrem Fenster hinauf,wieder und wieder. Was habe ich getan? schrie er, bis ihr Vater ihm drohte, den Gendarmen zu rufen.
    Die Kinder wurden größer. Ailies Vater starb. Sie saß stundenlang am Fenster und blickte auf die Hügel hinaus, wartend, hoffend. Und immer wenn ihre Laune am düstersten war, wenn sie tief im Herzen wußte, daß sie weder Mungo noch Zander jemals wiedersehen würde, gerade dann flüsterte ein neues Gerücht ihr ins Ohr, tauchte irgendein Kaufmann in Edinburgh auf und erzählte eine Geschichte, die er von einem Faktoreiverwalter am Gambia hatte, der sie von einem eingeborenen Sklavenhändler hatte, der sie von einem Mandingo-Priester hatte: es gebe einen Weißen im Sahel, der dort demütig und bescheiden wie ein Schwarzer lebe. Und dann begann alles wieder von neuem. Er war dort unten, sie wußte es.
    Inzwischen waren da die Kinder. Thomas, das Jahrhundertkind, war ihr sowohl Segen wie Fluch. Wie sein Vater war er körperlich früh entwickelt, ein Athlet, mit vierzehn schon der beste Fußballer in ganz Selkirkshire. Groß, mit breiten Schultern, mächtigem Brustkasten und sandfarbenem Haar war er das Ebenbild von Mungo. Sie sah ihn an, und die Vergangenheit kehrte zurück, um sie zu verfolgen wie ein trauriges, unaussprechliches Wesen, das den Tiefen eines kalten, finsteren Hochland-Sees entstieg. Mungo junior und Archie glichen ihrem Vater auch
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