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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik
Autoren: T.C. Boyle
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Stückchen Blei. «Gib sie mir!»
    «Nicht zu fassen!» brüllt Ned. «Unglaublich! Ein schlechter Scherz, das ist ein schlechter Scherz!»
    «Iiih!» rufen die Geier und stoßen herab. «Iiih-hiiih!»
    «Was?» Der Entdeckungsreisende schreit – grölt geradezu, denn ein feuchter Wind heult in düsteren, atemlosen Seufzern durch den Tunnel. «Was?»
    Und dann gehen sie über Bord.
    Es ist ein Gefühl, wie ins Maul eines Hurrikans zu springen, wie der Tanz mit einer Lawine. Im Nu werden sie begraben, unter unzähligen krachenden Tonnen von Wasser, selbst die Felsen erzittern unter dem wuchtigen Ansturm. Dassouds Schuß geht weit daneben, die
Joliba
kentert und wird im nächsten Augenblick an der Felswand zu Splittern zermalmt; Martyn und M’Keal werden, beide längst tot, kurz durch die Luft gewirbelt und dann in den Schlund des Tunnels gesogen, als hätten sie nie existiert.
    Oben auf den Felsen jubeln zehntausend Stimmen ihren Triumph und ihren Sieg hinaus. Barfuß, nackt, mit von rituellen Narben und Farbstriemen entstellten Gesichtern, schwarzen Gesichtern, schwarzen Körpern, umarmen sich die Stammesleute, Todfeinde küssen einander ab, liegen sich tanzend in den Armen. Der Siegesruf brandet hoch, wieder und wieder, und die Freudenfeuer lodern bis tief in die Nacht.
    Und der Niger, der Niger fließt weiter, vorbei am Tumult von Boussa, vorbei an Baro und Lokoja, durch sanfte Hügel und baumlose Ebenen, er tänzelt über die Untiefenwie Finger auf einer Klaviatur, bewegt das Schilfrohr in seltsam überirdischer Musik und fließt weiter dahin, den ganzen Weg bis zum Meer.

CODA
    Beunruhigende Gerüchte begannen gegen Ende des Jahres 1806 an die Küste zu sickern, Gerüchte von Mungo Parks Ableben und der Auflösung seiner Expedition. Im Januar 1807 erreichten sie England, und kurz darauf – wie vom Wind getragene Mikroben – breiteten sie sich in Schottland aus. Ailie stellte sich diesen Gerüchten – auch dem letzten wilden Wörtchen   –, weigerte sich aber, sie zu glauben. Mungo tot? Es war unmöglich. Ein Irrtum, das war alles, damit endete es eben, wenn man dem verantwortungslosen Geplapper dieser schwarzen Eingeborenen, dieser gräßlichen kleinen Bubis mit den entstellten Gesichtern und verrotteten Zähnen auch nur den geringsten Glauben schenkte: Was wußten die schon von der Courage und Zähigkeit ihres Mannes? Schließlich war er ja beim erstenmal auch fast drei Jahre weg gewesen, und niemand – nicht einmal ihr Vater und Zander – hatte damals geglaubt, daß er noch am Leben war. Nein. Die Gerüchte waren ohne Grundlage, lachhaft.
    Doch als 1807 zu 1808 wurde und immer noch keine definitive Nachricht von Gatte oder Bruder kam, begann sie nach Gerüchten zu hungern, nach Gerüchten, die bekräftigen würden, was sie so inbrünstig glaubte; irgendwie, irgendwo war Mungo noch dort draußen. Das Kolonialministerium trat 1810 über den Gouverneur von Senegal, Oberstleutnant Maxwell, mit dem Buschführer Isaaco in Verbindung und beauftragte ihn, die Umstände um das Verschwinden des Entdeckungsreisenden zu erhellen. Anderthalb Jahre später tauchte der ältliche Mandingo wiederaus dem Busch auf, in der Hand ein arabisch verfaßtes Schriftstück: es war das Tagebuch des Amadi Fatoumi. Die Weißen, so schrieb Fatoumi, seien in Boussa umgekommen, obschon er alles Erdenkliche dagegen getan habe. Mungo Park sei tot. Ertrunken, als die
H.M.S.   Joliba
bei einem Eingeborenenangriff in den Stromschnellen gekentert sei.
    Ailie erkannte das Dokument nicht an. Es sei eine Lüge. Mungo sei noch am Leben – ganz bestimmt   –, und Zander auch. Ihr Vater versuchte, sie zu überzeugen: «Die Wahrheit ist traurig, Mädel, aber du mußt dich mit ihr abfinden. Du bist jetzt Witwe, und so ungern ich’s sage, auch dein Bruder ist dir genommen worden.» Seine Worte zeigten keinerlei Wirkung. All das hatte sie schon einmal gehört – vor fünfzehn langen Jahren, als die ganze Welt ihre Bierkrüge vollweinte um den «tapfren jungen Schotten, vom Schatten des Dunklen Kontinents verschluckt», als Freunde und Verwandte bei ihr aufmarschierten, um ihr den Rücken zu tätscheln, und ihr eigener Vater sie zu einer Heirat trieb, die sie nicht wollte. Und diesmal war es genau das gleiche. Scharenweise standen sie bei jedem neuen Gerücht wie die Krähen vor ihrer Tür. Betty Deatcher mit tränennassen Augen, Hochwürden MacNibbit mit einem Gesicht wie ein Grabstein. Du Ärmste, sagten sie und beobachteten sie lüstern, mit
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