Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
Vom Netzwerk:
 
     
     
Charleston, South Carolina, 1982
     
    Es war sechs Uhr. Die Sonne war untergegangen, und der Friedhof ruhte dunkel unter den Bäumen. Die Baumkronen schienen sich erdwärts zu neigen, und die Äste und Blätter verzweigten sich zu undurchdringlichen Dächern. Nur ein Zikadenchor durchbrach die Stille und sang ungesehen in der Nähe. Der Gesang hallte zwischen den Bäumen wider, ein Rad quietschte, und Kies knirschte unter einem Paar grüner Gummistiefel in Größe fünfundvierzig.
    Die Gummistiefel gehörten dem alten Charles Peabody. Er war der Mann für alles, angestellt beim Golden-Oak-Friedhof. Wie ein dunkler Schatten seiner selbst ging er den verlassenen Kiesweg entlang, sein langes Haar lugte unter dem unförmigen Filzhut hervor. Hacke und Schaufel hatte er in die mit feuchter Erde gefüllte Schubkarre gelegt, die er vor sich herschob. Er holte tief Luft. Es fiel ein feiner Sprühregen, und er genoss den frischen Geruch von Erde und Gras, den der leichte Wind mitführte.
    Mit einer Hand schlug er ein Spinngewebe beiseite, das ihm im Weg war, und bog langsam auf den Weg mit dem Rosenspalier ein, der in den alten Teil des Friedhofs führte. Verwelkte Rosenblätter fielen wie weiße Flügel auf den nassen Erdboden vor ihm.
    »Paradies!«, flüsterte er und wischte die klebrigen Fäden an seinem Overall ab. An diesem unprätentiösen Ort ruhten alle, die er geliebt und mit denen er gerne geredet hatte.
    Er hatte ein gutes Leben gehabt, aber jetzt träumte er oft vom Tod und davon, wieder mit Martha vereint zu sein: Der abgenutzte Ehering saß immer noch auf seinem linken Ringfinger, allerdings war er in den letzten paar Jahren immer lockerer geworden. Der Gedanke, dass der Tod bald kommen und ihn holen würde, machte ihn glücklich. Hoffentlich würde es bald so weit sein! Er hatte sich in jeder Hinsicht auf sein körperliches Ende vorbereitet, einen Grabstein bestellt und eine Grabstelle oben im neuen Oak ausgesucht.
    In diesem Teil des Golden-Oak-Friedhofs wurde inzwischen niemand mehr begraben – das letzte Begräbnis lag Jahrzehnte zurück, und die, die hier ruhten, waren seit Langem vergessen. Besucher kamen nur selten, vielleicht mit Ausnahme von Allerheiligen, wenn der alte Friedhof der beliebteste Ort in der ganzen Stadt war und die Kinder über das hohe schmiedeeiserne Gitter kletterten, um Papierskelette und Laternen in die Bäume zu hängen und sich gegenseitig einen Mordsschrecken einzujagen.
    Nach dreiunddreißigjähriger Dienstzeit auf dem Golden-Oak-Friedhof – zunächst als Totengräber, dann als »Mann für alles« – kannte Charles Peabody diesen Ort besser als die eigene Westentasche. Er kannte all seine Geräusche: den Gesang der Zikaden und Vögel, das Quaken der Laubfrösche, das Flüstern des Windes in den Baumkronen. Er kannte jedes Grab, jeden Baum und Strauch, jedes Moosbüschel auf den in Licht und Schatten getauchten Pfaden.
    Jetzt blieb er in der Dämmerung stehen, denn er spürte plötzlich, dass irgendetwas nicht stimmte, ohne genau sagen zu können, was es war. Er legte den Kopf schief, um sich auf die Geräusche des Friedhofs zu konzentrieren, musterte die bröckelnde, mit Efeu bewachsene Mauer und die in Reihe stehenden Eichen auf der anderen Seite, die zur katholischen Kirche St. Mary führten. Ein Eichelhäher hüpfte in dem gigantischen schwarzborkigen Geäst hin und her, dass die Blätter plötzlich erzitterten, gerade wie es ihnen gefiel. Nichts Ungewöhnliches.
    Charles Peabody kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick nach unten gleiten. Die Hitze lag schwer auf seinen Lidern. Er zog sein Taschentuch heraus und betupfte die Augen. Seine Sehkraft war nicht mehr das, was sie mal war – der graue Star hatte ihm nach und nach das meiste davon genommen –, aber er konnte gerade noch erahnen, dass das schmiedeeiserne Gitter von Eugenia Mayers altem Mausoleum aus gehauenem Marmor offen stand. Die Pforte quietschte leise wie ein Klageruf in den Angeln.
    »Verdammte Bande!« Seine Miene verfinsterte sich, er setzte die Schubkarre ab und ging, um die Pforte zu schließen. Sternjasmin wuchs an den Seiten der Grabstätte hinauf und umrankte das grüne Eisengitter ringsum wie ein Kleid.
    Als er die Hand auf das kalte Eisen legte und auf ein Büschel weiße Blumen trat, stieß er ein leises überraschtes Lachen aus – oder eher ein ungläubiges Keuchen – und zog die Hand mit einem raschen Ruck wieder zurück.
    Er starrte auf das Mausoleum.
    Das perlweiße
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher