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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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Steinhaus leuchtete in der Dunkelheit. Charles zwinkerte und merkte, wie eine Gänsehaut von den Fingerspitzen über die Arme bis zu seinem Rücken kroch.
    War das Einbildung, oder hatte er gerade ein unheimliches, schwaches Jammern aus dem Inneren der Gruft gehört?
    Nein. Das war unmöglich. Er schüttelte den Kopf. Ihm standen alle Nackenhaare zu Berge, aber die Logik sagte ihm, dass natürlich niemand da drinnen sein konnte – außer Eugenia Mayers kalte, entseelte Gebeine.
    Charles stand wie angewurzelt und lauschte gebannt. Aber er hörte nur die Stille, die von dem lauten Schlagen seines Herzens unterbrochen wurde, das in seinem Brustkorb hämmerte.
    »Ist da jemand?«, fragte er fast flüsternd. Er schluckte, wartete einen Augenblick und wagte noch einen Versuch: »Hallo?«
    Nichts.
    Charles hielt eine Weile in der schweren Stille inne, dann ging er den schmalen, überwachsenen Pfad zur Gruft entlang und stocherte an der Platte herum, die den Zugang zum Sarkophag verschloss. Er ging in die Knie, ergriff den Stein und versuchte, ihn anzuheben. All seine Knochen schmerzten. Er stöhnte laut auf, aber der Stein bewegte sich keinen Millimeter.
    Er seufzte und richtete sich wieder auf. Er rieb sich die Hände, und in seine Stirn grub sich eine tiefe Falte. Fast schien es, als wäre die Platte festgeleimt. Außerdem wirkte sie eigenartig deplatziert …
    Langsam wurde ihm klar, was daran so merkwürdig war. Eine Gruft wurde mit Mörtel und Backstein versiegelt – so war es schon immer gewesen. Nicht mit Leim und Marmorplatten.
    Charles Peabody hielt den Atem an und spürte seinen Puls an den Schläfen. Er kratzte mit dem Fingernagel an der Fuge zwischen Marmorplatte und Steinwand. Er kniff die Augen zusammen, bis aus den Falten in seinem länglichen Bluthundgesicht tiefe Furchen wurden: Wenn die mal nicht festgeleimt worden war. Genau das war sie! Und bei näherem Hinsehen wollte er wetten, dass die Oberfläche der Marmorplatte verriet, dass sie nagelneu war. Jetzt wusste er, wenn er die Platte lösen würde, käme dahinter nicht das typische Mauerwerk zum Vorschein. Dieses Grab war geöffnet worden, das war so sicher wie das Amen in der Kirche – geöffnet und wieder verschlossen worden.
    Und es befand sich jemand da drinnen. Das spürte er mit einer instinktiven Gewissheit, die keinen Zweifel zuließ.
    »Hallo, ist da jemand?«, fragte er zaghaft.
    Er trat gegen die widerspenstige Platte und versuchte erneut, sie zur Seite zu schieben. Seine Finger und Zehen begannen zu schmerzen, eine Erinnerung an seine Gicht, die immer schlimmer wurde, eine Erinnerung an sein Alter – eine Erinnerung, die er jetzt wirklich nicht gebrauchen konnte.
    Er hielt einen Augenblick inne und lauschte den Zikaden. Vielleicht bildete er sich das alles nur ein? Vielleicht spielte ihm sein Gehör einen Streich? Oder vielleicht litt er auf seine alten Tage an Verwirrtheit?
    Da durchbrach ein leiser Schrei die Stille. Dann noch einer … und sie stammten eindeutig aus dem Grabesinneren.
    Charles schnappte nach Luft. Sein Puls wurde schneller. Seine Wangen röteten sich. Sein Unterkiefer klappte nach unten. »Du großer Gott.«
    »Ahhh …«, tönte es aus dem Grab. »Aaaa.« Dieser schwache, wortlose Klageruf ließ Charles zusammenzucken. Angst und Schmerz hatten den Schrei ausgelöst.
    Und was noch schlimmer war: Er klang wie der eines Kindes.
    So schnell ihn seine schwachen Beine tragen konnten, stürzte er zur Schubkarre zurück und holte die Hacke.
    Charles spuckte in die Hände, schwang die Hacke über den Kopf und ließ sie mit klingendem Geräusch abwärts auf den massiven Stein sausen; ein, zwei, drei Mal. Selbst mit der Hacke war das ein beschwerliches Unterfangen. Seine Muskeln in Schultern und Rücken knarzten wie rostige Scharniere, und ihm brach der Schweiß am ganzen Körper aus. Aber nach einer Weile hatte er eine kleine Ecke von der Platte abgeschlagen. Er bohrte das spitze Ende seines Werkzeugs in das Loch, zog und wurde mit einem schmatzenden Geräusch belohnt, als der Leim endlich nachgab. Charles legte die Hacke beiseite, sog Luft in seine Lungen und hielt die Platte an beiden Seiten fest. Dann stemmte er sie hoch und kippte sie zur Seite.
    Wie er es sich schon gedacht hatte, war das alte Mauerwerk dahinter aufgebrochen worden und die Gruft war offen.
    Er ging in die Knie, stützte sich mit der linken Hand am Grab ab, um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, und blickte hinein. Zunächst dachte er, er wäre blind.
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