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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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Sommers im Eiltempo hatte verrotten lassen wollen.
    Der Police Detective trat ins Bild und erklärte: »Wir wissen noch nicht viel. Das Grab wird auf Spuren und Fingerabdrücke untersucht, mit denen wir weiterarbeiten werden, außerdem wird die Tote obduziert.«
    »Wie würden Sie die Tat beschreiben?«
    »Bestialisch und psychopathisch – außergewöhnlich brutal und bestialisch.« Der Police Detective schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie etwas Derartiges erlebt, und ich bin jetzt seit vierzehn Jahren bei der Polizei.«
    Die Journalistin fuhr fort: »Grace White hat ihr Heim am Freitagmorgen verlassen, um in die Schule zu gehen, kehrte jedoch nie von dort zurück. Sie wurde heute Abend hier gefunden, misshandelt und verunstaltet zurückgelassen … zurückgelassen in einem Grab an diesem Ort des Todes, das bis jetzt sein Geheimnis für sich behält.«
    »Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes …« Die Stimme des Pfarrers erstarb, bevor er das Kreuzzeichen machte und sich bückte, um den letzten Akt des Begräbnisrituals auszuführen, und mit einer kleinen Schaufel dreimal geweihte Erde auf den Sargdeckel fallen ließ.
    Der Himmel war bleigrau, und der Regen prasselte wie ein lautes Flüstern auf die riesigen Baumkronen der Eichen auf dem Golden-Oak-Friedhof nieder. Das Trauergefolge hatte sich auf dem Rasen um das frische Grab herum aufgestellt, und die Gedenkfeier war soeben zu Ende gegangen. Schwarze Regenschirme wurden aufgespannt, die Kirchenglocken läuteten beharrlich und schicksalhaft.
    Es war ein großes Aufgebot gekommen. Alle Schüler der fünften Klasse der katholischen Grundschule waren da, die Klassenlehrerin des toten Mädchens, ein Großteil der Eltern der Schülerinnen und Schüler und die Schulleitung. Die Schlagzeilen der Charleston Post and Courier sowie alle anderen Zeitungen des Staates hatten das ihre dazu beigetragen, dass Grace White eine letzte Reise zurücklegte, die der eines Rockstars glich. Horden von Schaulustigen strömten wie ein summendes Wespennest durch das Gittertor und stellten sich gemäß der polizeilichen Anweisungen an der Kirchenmauer auf.
    Die Familie der Verstorbenen sowie ihre Freunde standen direkt neben dem Sarg, dicht zusammengedrängt, in vom Regen durchnässter Trauerkleidung – die Gesichter unter breiten Hutkrempen, Kapuzen und hinter Sonnenbrillen oder hauchdünnen Schleiern verborgen. Die Nachwirkungen des makaberen Verbrechens lagen wie eine ätzende Säure in der Luft über der Trauergesellschaft. Einige standen stumm vor Entsetzen und betrachteten den weißen Sarg, der seine Reise ins Erdreich angetreten hatte, die in der Tiefe mit einem deutlich hörbaren Aufprall endete, andere weinten, beteten und küssten sich die Hände, ein Mädchen musste sich in ihr Taschentuch übergeben. Die Eltern der Toten waren das Sinnbild unsagbarer Trauer. Der Vater schüttelte fortwährend den Kopf als Ausdruck eines stummen Protests, während er seine Frau stützte – eine geisterhafte Erscheinung in schwarzem Rock, mit leerem Blick und zitternden Händen, die aussah, als stünde sie kurz davor, das Bewusstsein zu verlieren, und als würde die Trauer sie mit in das offene Grab hinabreißen.
    Unter den Trauernden standen zwei elfjährige Schüler mit gesenkten Köpfen, relativ unbemerkt in der Anonymität zweier ganz gewöhnlicher Buben. Sie wirkten harmlos und unverdächtig, obwohl ihre Augen die einzig trockenen waren. Wie zwei perfekte Chamäleons, allein mit ihren Erinnerungen – jeder von ihnen ein auserlesener, abenteuerlicher und spannender Teil der Erinnerungen; Demütigung, Angst, Leiden … und Tod.
    Sie hatten ihr Geheimnis besiegelt. Einen Blutpakt. Es gab keinen Weg zurück, sie besaßen keinen moralischen Kompass, nicht die geringste Empfindung. Und obwohl sie die Gestalten von Elfjährigen besaßen, hatten sie nichts Menschliches oder Anständiges an sich.
    Einer der Jungen hob leicht den Kopf und schielte zu seinem Mitstreiter hinüber – ein flüchtiger Blick, den keiner der Anwesenden bemerkte. Über sein Gesicht huschte ein zufriedenes Lächeln. Der andere unterdrückte ein verschmitztes Grinsen, schob unauffällig einen Kaugummiklumpen von einer Wange in die andere, senkte den Kopf und strich sich die Haare aus der Stirn.

Charleston, South Carolina, 1998
     
    Er glotzte – ein aufdringliches, unverhohlenes Starren, das bei ihr ein Gefühl des Unbehagens auslöste. Er war den gesamten Abend durch den Raum geschritten wie ein
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