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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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stechende Geruch wehte herüber und breitete sich aus.
    Chelsea verzog das Gesicht. »Hm, wie lecker!«
    »Sollen wir nicht lieber gehen?«, fragte er.
    »Wohin willst du denn?«
    »Was immer dir vorschwebt«, gab er zurück und schnitt eine Grimasse. »Weg von dem infernalischen Lärm … und diesem Gestank.«
    »Ja, aber ich weiß nicht …«
    »Auf der anderen Seite des Güterbahnhofs ist ein wunderschöner, kleiner Garten. Es gibt dort einen Teich mit einem Springbrunnen darin und …«
    »Ich kenne dich doch gar nicht.«
    »Nein, aber das kann sich ja ändern.«
    Sie wusste, dass sie nicht einmal daran denken durfte, aber Tatsache war, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte. Sogar sehr. Was würde Vincent dazu sagen?
    »Ich habe dir ja schon gesagt, wie ich heiße.« Er setzte ein hinterhältiges Lächeln auf. »Also gut, in Wirklichkeit heiße ich Theodor Bundy und bin ein Axtmörder.«
    »War Ted Bundy nicht ein Serienmörder?«
    »Habe ich das nicht gerade gesagt?« Er lächelte – ein sehr einnehmendes Lächeln. »Ich werde schon auf dich achtgeben, das verspreche ich. Hoch und heilig.« Er legte die Hand aufs Herz. »Großes Indianerehrenwort!«
    »Ja, ja«, sagte Chelsea und seufzte. Sie zuckte mit den Schultern, leerte ihr Glas und schlüpfte in ihre Sandalen. Was Vincent nicht wusste, würde ihm auch nicht schaden. Und im Übrigen war ja wohl nichts dabei, einen Spaziergang zu machen …
    Es ging ihr schon viel besser, aber als sie aufzustehen versuchte, schwankte sie trotzdem ein wenig. Marlon fasste mit beiden Händen um ihre schmale Taille und half ihr auf die Füße. Er musterte sie mit einem schwachen Lächeln. Chelsea wich seinem Blick aus, als sie die Gefühle wahrnahm, die in ihr erwachten – Gefühle, denen sie nicht recht traute.
    »Was ist denn? … Warum siehst du mich so an?«
    »Du bist sehr hübsch«, sagte er.
    »Danke. Du auch.«
    »Und groß!«
    Sie lachte.
    Eine verzauberte und verführerische halbe Stunde lang folgte sie ihm durch die verlassenen Straßen des Ortes, weg von der Uferpromenade und den Stadtvillen in der Meeting Street, weg von Rosen- und Gardenienduft.
    Sie redeten über alles Mögliche, und er streichelte ihren Arm, während er mit ihr an den Bahnschienen entlangging. Sie gelangten auf die andere Seite des Bahnhofs, und Chelsea konnte sich nicht mehr orientieren – sie konnte sich auch nicht mehr genau erinnern, wie sie dorthin gekommen war. Es war, als würde die Dunkelheit ihre Wahrnehmung von Zeit und Raum verfälschen. Sie begann, müde zu werden, und ihre Füße schmerzten – nur der Teufel selbst konnte hochhackige Schuhe erfunden haben! Sie ging immer langsamer, hielt einen Augenblick inne und blickte auf den öden Weg mit seinen verlassenen, verfallenen Häusern und verwilderten Grundstücken zurück, die sich in der Finsternis verloren. Tintenschwarze Fenster starrten sie an wie geheimnisvolle Augen. Ihr schauderte unwillkürlich, und sie schlang die Arme um ihren Körper.
    Es war erstaunlich still. Ein Insektenschwarm summte in der Hitze der Nacht und verschwand wieder. In der Ferne konnte sie Autos brummen und einen Hund jaulen hören, aber dieser Teil der Welt erinnerte sie an eine Geisterstadt oder die verlassene Filmkulisse eines Gruselfilms.
    Sie hatte keine Angst vor Gruselfilmen oder der Dunkelheit, aber trotzdem begann sie zu spüren, dass es vielleicht dumm von ihr gewesen war, voller Vertrauen einem fremden Mann an diesen gottverlassenen Ort zu folgen, nur weil er gut aussah.
    »Wo sind wir?«
    »Wir sind gleich da«, sagte er.
    »Vielleicht sollten wir besser umkehren?« Ihre Stimme klang ein bisschen so, als würde sie unter Wasser sprechen. Sie hätte beinahe angefangen zu lachen.
    »Nein, nein. Es ist gleich da drüben«, entgegnete er und deutete auf einen smaragdschwarzen Umriss, der in Chelseas Augen aussah wie ein Eisenzaun, der ein transsylvanisches Schloss umgab.
    Sie warf ihm einen amüsierten Blick zu. »An der Schwelle zum Unbekannten!«, rief sie und lachte theatralisch. »Ich hoffe, es gibt auch eine Bank im Unbekannten. Meine Füße fühlen sich an wie Hackfleisch.«
    »Ja, es gibt eine«, versicherte er. »Mit Aussicht auf den See!«
    Sie lachte wieder.
    Sie betraten den Garten und gingen den Hauptweg entlang. Intensiver Jasminduft umhüllte sie. Der Perlkies knirschte unter ihren Schritten in der düsteren Stille. Das silberne Mondlicht fiel durch das Blätterdach der Bäume und warf ein unheimliches Schattenspiel auf den Weg.
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