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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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einen Streich. Sie strich eine Haarlocke hinters Ohr und tupfte sich den Schweiß von der Stirn.
    Hinter ihm raschelten Blätter im Wind. Die dünnen, elastischen Zweige schienen sich zu strecken und den Boden berühren zu wollen. Aber es gab gar keinen Wind, der die Bäume hätte zum Leben erwecken können – es war völlig windstill.
    Chelsea kniff ihre Augen fest zu und öffnete sie langsam wieder. Das Ganze war unwirklich und real zugleich. Sie schwankte, als stünde sie auf einem Trampolin, und sah zu Boden. Nebelschwaden umhüllten ihre Füße wie kleine Geister, und einen Augenblick lang beschlich sie der wahnwitzige Gedanke, dass sie nun gar nicht sehen würde, wenn die Toten ihre verrotteten Hände aus der Erde emporreckten, um nach ihren Fußknöcheln zu greifen.
    Verrückt!, sagte sie zu sich selbst und ermahnte sich, mit diesen Albernheiten aufzuhören.
    Aber es war schon merkwürdig. Sie war mehrmals in ihrem Leben betrunken gewesen, hatte aber die Trunkenheit nie auf so besondere Art empfunden, teils bewusst, teils wie im Traum, wo sie kaum den Unterschied zwischen Illusion und Wirklichkeit kannte. Es war, als würde sie schweben oder hätte eine viel zu schnelle Karussellfahrt gemacht … oder hätte einen schlechten Trip …
    Ein weiteres beunruhigendes Szenario fiel ihr ein: Vielleicht hatte Marlon ihr irgendetwas ins Wasserglas gemischt? Das war ja ein uralter Trick, vor dem ihre Mutter sie zahllose Male gewarnt hatte.
    Chelsea trat einen Schritt zurück und starrte ihn an, als wollte sie in ihn hineinsehen. Aber nichts an seinem Verhalten verriet, dass es so war. Sie konnte in seiner Miene auch keine unlauteren Absichten ausmachen, während er dort stand und sie anlächelte.
    Marlon kam einen Schritt näher und ließ seine Hände ihren Rücken hinabgleiten, bis sie in seinem Schatten stand. Chelsea schluckte geräuschvoll und sah ihn an. Ihr Kopf brummte, und sie bekam weiche Knie. Er lächelte noch immer und zog sie an sich. Chelseas Herz pochte schneller. Marlon beugte sich vor, küsste sie und seine Hände umschlossen ihren Hals. Sie spürte, wie sein Haar in ihr Gesicht fiel, seidenweich und duftend. Sie war wie benebelt, und ihr schwindelte, während sie an einen Eichenstamm gelehnt dastand, das Becken vorgeschoben, die Augen geschlossen. Eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinunter.
    Marlon ließ eine Hand unter ihren Rock wandern.
    Sie schob seine Hand weg. »Nein, ich kann nicht. Ich bin nicht ganz ich selbst.«
    »Das ist nur die Hitze«, flüsterte er. Seine Hand glitt unter ihrem Rock weiter nach oben und berührte sie zwischen den Beinen.
    Sie legte die Hände auf seine Brust. »Ich habe Nein gesagt!« Chelsea interessierte sich nicht länger für so etwas. Die Finsternis kam ihr auf seltsame Weise näher, als schaute sie in ein Kaleidoskop, in dem es nur Grautöne gab. Ihre Bewegungen erschienen ihr langsamer, kraftloser. Sie versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. »Du bist sehr hübsch und … und … attraktiv, aber ich möchte jetzt gerne zurück.«
    »Es gibt keinen Weg zurück …«, sagte er mit weicher Geisterstimme. Er stand sehr dicht neben ihr, aber seine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Sie konnte sein Gesicht in der Dunkelheit erkennen, aber es war nicht sein Mund, der die Worte formte. Seine Stimme klang auch irgendwie anders. Sie klang wie die Stimme des …
    Ein gehauchtes Flüstern kam aus den Büschen hinter ihm. Die Bäume bewegten sich wieder. Chelsea reckte den Hals und sah eine massige Gestalt in den klaren Mondschein treten. Sein pomadiges Haar stand wie Stachelschweinborsten ab, die Augen funkelten. Mit erdrückender Angst sah sie, dass er nur einen Gürtel trug, sonst war er nackt.
    Er war es, der widerliche Chauvi von der Party!
    Sein Anblick traf sie wie ein Faustschlag. Einen kurzen Moment erstarrte sie zu einer Salzsäule.
    Oh Gott, großer Gott!
    Mit offenem Mund starrte sie ihn an, warf Marlon einen verständnislosen Blick zu. Der grinste breit. Ein krankes Grinsen, das von Ohr zu Ohr reichte. Das Gesicht schwebte vor ihr in der Dunkelheit.
    »Lass mich!« Sie stieß ihn von sich, und er ließ sie los. Sie sprang seitlich weg, fort von den Bäumen. Ihr Herz hämmerte, und ihre Wangenmuskeln zitterten unkontrolliert. Eine ganze Reihe roter Alarmknöpfe leuchteten auf und blinkten in ihrem benebelten Gehirn.
    »Komm jetzt, Kleine. Zeig uns deine Muschi …« Marlons Stimme klang hohl in der Nacht, und sie hörte seine Worte immer wieder wie ein
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