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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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Oben in den Bäumen rief ein Vogel.
    »Das ist ja fast wie in einem Geisterschloss oder einem Horrorfilm. Jetzt fehlt nur noch ein Gespenst ohne Kopf mit langen Beinen und rasselnden Ketten und …«
    Die letzten Worte blieben unausgesprochen. Chelsea blieb stehen, drehte sich um und schaute sich um. Die kleinen Härchen auf ihren Armen stellten sich auf, und eine Gänsehaut lief ihr den Rücken hinab.
    Hatte er nicht gesagt, dass das hier ein Garten sei?
    Von hier aus konnte sie ein gutes Stück weit in alle Richtungen sehen. Schwacher Nebel stieg vom Rasen auf, auf dem die Grabsteine im perlmutternen Mondlicht schimmerten. Sie waren auf einem Friedhof. Das war so sicher wie das Amen in der Kirche.
    »Was … ist das hier nicht ein Friedhof?«
    »Doch«, antwortete er. »Ist es nicht ein schöner Ort?«
    »Oh, doch, ich weiß nicht recht … hier ist es schon schön … aber ich dachte …«
    Chelseas Müdigkeit schwand und wurde durch eine schlagartige Erkenntnis ersetzt. Sie war allein mit ihm – mutterseelenallein auf einem verlassenen Friedhof mitten in der Nacht. Und niemand würde sie hören können, falls …
    »Was hast du denn gedacht?« Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar und lächelte – das gleiche einnehmende und entwaffnende Lächeln wie vorhin. Er war außergewöhnlich schön anzusehen. Seine dunklen Augen glänzten, die Lippen schimmerten rot. Im Mondschein konnte sie die feinen Konturen seines Mundes und den schwachen Schatten von Bartwuchs auf seinen Wangen erkennen. Ein ganz gewöhnlicher Mann. Kein Mann, der bei Vollmond zum Werwolf wurde. Nur ein Mann, nicht mehr und nicht weniger.
    »Wo sind wir? Hier ist es unheimlich«, sagte sie.
    »Ja, ein bisschen vielleicht. Er hat auch einen gewissen Ruf, dieser Friedhof«, sagte er. »Hier wurde früher mal ein Mädchen eingesperrt in einem Grab gefunden.«
    »Eingesperrt? … Was meinst du? Begraben?« Chelsea sah ihn verblüfft an. »Hat sie noch gelebt?«
    »Nein, nicht richtig, aber sie hat noch gelebt, als sie beerdigt wurde. Ja, also, sie wurde nicht unter der Erde begraben.«
    »Was?« Sie sah ihn unsicher an.
    »Einige Orte hier unten im Süden, zum Beispiel New Orleans, liegen fast auf gleicher Höhe wie der Meeresspiegel, und wo der Grund aus Marsch und Moor besteht, werden die Toten oft über der Erde bestattet«, erklärte er.
    »Warum das?«
    »Wie man in New Orleans sagt: Einen guten Mann kann man nicht unten halten!«
    Sie sah ihn verständnislos an.
    Er merkte, dass sie nicht begriff, und erklärte: »Ein gewöhnlicher im Sumpf begrabener Sarg würde wieder an die Oberfläche gedrückt werden, wenn die Flut kommt – zum Schrecken und Grausen der Hinterbliebenen und als Gefahr für die Gesundheit aller!« Er hielt inne, dann sagte er: »Aufgrund des subtropischen Klimas hier unten sind die Gruften genauso effektiv wie die Öfen der Krematorien.« Er nickte in Richtung einer Reihe kleiner Grabhügel entlang des Weges, an dem die Gräber regelrechten Gebäuden im Miniformat glichen, mit spitzen Dächern, dekorativen schmiedeeisernen Zäunen und Pforten, Vorgärten mit wunderschönen exotischen Blumen und Bänken für die Hinterbliebenen. »Ein Jahr später sind nur noch Knochen übrig.« Er warf ihr einen raschen Blick zu und fuhr fort: »Eine kleine Luke im Boden kann bei Bedarf geöffnet und die Knochen können beiseitegefegt werden. Dann ist der Ofen bereit für den nächsten entseelten Körper.«
    »Uh, zum Teufel …« Ihr schauderte, sie sah über die verwitterten Gräber hinweg und musterte ihn erneut – sie spürte, dass ihre Augen zuzufallen drohten, und zwang sich, sie offen zu halten. »Du weißt eine ganze Menge über Bestattungen, oder?«
    Er zuckte leicht mit den Schultern.
    »Und wer hat das getan?«, wollte sie wissen. »Das Mädchen begraben, meine ich.«
    »Das ist nie rausgekommen.«
    Der Mondschein spiegelte sich in seinen Augen, die wie Wasser am Boden einer Tonne glänzten. »Die Polizei ist jedenfalls nicht so schlau, wie sie glaubt. Dafür aber verdammt selbstzufrieden.« Er lachte.
    Chelsea sog die Luft ein und versuchte, ihre beunruhigte innere Stimme zu ignorieren, die mit den Insekten um die Wette zirpte.
    Er hatte es sorgfältig vermieden, etwas von sich zu erzählen. Oder bildete sie sich das nur ein?
    Ihre Gedanken ließen sich nicht richtig fassen. Sie sah ihn an und versuchte, sich zu konzentrieren. Sie hatte Kopfschmerzen, ihre Füße taten weh, und ihre Erschöpfung spielte ihren Augen offenbar
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