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Schlaf, Kindlein, schlaf

Titel: Schlaf, Kindlein, schlaf
Autoren: Annika von Holdt
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Seine Augen waren offen, aber sie sahen nichts. Dichte, schwarze Finsternis hüllte alles ein. Und der alte Grabkammergestank war erdrückend.
    »Hallo? … Ist da jemand?« Seine Stimme war heiser von dem Staub und wurde als Flüstern von den Marmorwänden zu ihm zurückgeworfen.
    Stille … dann ein rasches, kaum hörbares Scharren. Das Geräusch kam aus der Dunkelheit.
    Charles Peabody zögerte einen Augenblick, dann machte er sich noch kleiner und zwängte sich in den schmalen Gang hinein. Die Luft in der halb unter der Erde liegenden Kammer war zehn bis fünfzehn Grad wärmer, und er begann stark zu schwitzen. Abgesehen von dem penetranten Gestank nach Feuchtigkeit und Schimmel, der aus den Anfängen des vergangenen Jahrhunderts stammen musste, nahm Charles den Geruch von Exkrementen wahr. Der saure Gestank stach ihn in der Nase.
    Er fingerte in der Brusttasche nach seinem Feuerzeug, fand es und hielt die andere Hand schützend vor die Flamme. Bis zum Erdboden war es noch ein Meter. Die klaustrophobisch kleine Katakombe war knapp drei Meter breit, vier Meter lang und wölbte sich etwa zwei Meter in einem gotischen Bogen. Am Boden stand auf einer kleinen Erhöhung der alte, verwitterte Sarkophag mit einem geschnitzten Kreuz auf dem Deckel.
    Charles ließ sich vorsichtig auf den steinernen Boden der Grabkammer hinuntergleiten. Er konnte sein Herz klopfen hören, und ein Frösteln schüttelte seinen Körper, als er sich umsah. Neben dem Sarkophag lagen eine Wasserflasche, zwei fast heruntergebrannte Stearinkerzen und Verbandsmaterial mit Blutflecken. Das alles war neueren Datums. Charles fiel außerdem auf, dass im Erdboden um den Sarkophag herum Kratzspuren zu sehen waren, aber als er die Flamme seines Feuerzeugs größer stellte, begriff er, dass es sich um eine – wenn auch undeutliche – Inschrift handelte. Er konnte das Wort Grace entziffern.
    Er runzelte die Stirn, machte einen langen Hals und lehnte sich über den Sarkophag.
    Die spärliche Flamme flackerte und spendete nicht mehr viel Licht, aber dennoch hob sich hinter dem Sarg eine kleine, nackte menschliche Gestalt von der Dunkelheit ab.
    Sie hatte keine Haare, deswegen konnte er nicht erkennen, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelte, aber nach der Körpergröße zu urteilen, war es ein Kind. Die Gestalt bewegte sich, sie zitterte und hatte offenbar Schmerzen. In den Armen steckten blanke, metallische Gegenstände und die Haut glänzte wie rohe Leber.
    »Oh großer Gott«, flüsterte Charles atemlos und musste sich mit beiden Händen am Sarkophag festhalten, um nicht umzufallen. »Allmächtiger!«
    Es gelang ihm, das Feuerzeug nicht loszulassen, aber seine Hand zitterte so stark, dass die Flamme ausging.
    In der Dunkelheit hörte er ein ersticktes Stöhnen, und im gleichen Augenblick griff etwas Feuchtkaltes nach seinem Handgelenk. Es fühlte sich ungefähr so an wie ein lebendiger Zweig. Er unterdrückte einen Schrei, und Angst überwältigte ihn. Unsanft setzte er sich und machte zitternd das Feuerzeug wieder an. Er blickte auf und sah eine kleine blutverschmierte Hand, die derart übel zugerichtet war, dass er das Feuerzeug wieder sinken ließ.
    Grace White war mehr tot als lebendig, als Charles Peabody die grausame Entdeckung machte, und im Krankenwagen auf dem Weg in die Kindred-Klinik hüllte die ewige Finsternis sie barmherzig und für immer ein.
    Während die Polizei etwas zu finden versuchte, was auf den Täter hindeuten konnte, wurde der Vorfall in den Spätnachrichten gebracht: »Ein lähmender Schock liegt heute Abend über unserer Stadt …«, sagte die Korrespondentin vor Ort, eine junge Frau in einem hellgrünen, maßgeschneiderten Hosenanzug. Die Kamera schwenkte langsam über den Golden-Oak-Friedhof, der in dem grellen Scheinwerferlicht von Polizei und Fernsehteams wie bloßgestellt aussah, weiter über den Pfad, der zur Nordseite führte, wo sich die Bäume behäbig neigten und das spanische Moos im Licht wie Silberfäden glänzte, und an der Kirche vorbei. Dann wurde das Bild von einem Schulfoto von Grace White abgelöst, auf dem sie schüchtern lächelte.
    Die Reporterin berichtete, dass die elfjährige Grace White mit den Handflächen an einem Sarkophag festgenagelt und bei lebendigem Leib von ihrem Mörder begraben worden war. Außerdem wurde erwähnt, dass sie sexuell missbraucht worden war und der Täter sie drei Tage lang ungeheuerlichen Folterspielen ausgesetzt hatte, bevor er sie in der Hitze des bevorstehenden
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