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Wassermusik

Wassermusik

Titel: Wassermusik
Autoren: T.C. Boyle
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melodisch, nicht nur ein Vogelzwitschern, keine von schabenden Zweigen oder lautmalerischen Bächlein erzeugte Illusion – es war der Klang von Musik, der Klang von Zivilisation und Menschenwerk. War er doch gestorben? War dies das Leben nach dem Tode – das Fegefeuer   –, ein dampfender, stinkender, bodenloser Ort, wo Teufel und Engel sich um seine Seele stritten? Er schloß die Augen. Vielleicht schlief er auch ein.
    Die Musik spielte weiter – Flöten, so schien es, drei oder vier, ihre Melodien verwoben wie Ranken. Er war besänftigt, getröstet. Als er sich endlich erhob, stand die Sonne tief am Himmel; nur die gerundeten Spitzen der Felsen wurden noch beleuchtet, überzogen von rosafarbenem Glühen, als wären die Eier nun reif zum Schlüpfen. Die Musik hatte plötzlich aufgehört. Er blickte sich um und sah keinerlei Anzeichen der Stromschnellen von Boussa, keine Musikanten, kein Zeichen von Leben. Nichts als glatte Findlinge, die bis zum Horizont gesät waren wie Melonen oder Strandbälle oder große, unbehaarte Köpfe, und hinter ihm war der Fluß. Hatte er sich die Flöten nur eingebildet?
    Schlotternd und unter Schmerzen, die ihm wie Nadeln durch Hände und Füße fuhren, richtete er sich auf und brach fast gleich darauf am nächstgelegenen Felsen zusammen. Er war mitgenommen, geschafft, übel zugerichtet. Prellungen zeichneten sein Schlüsselbein, und seine Beine, Hinterbacken und Rippen waren mit so vielen verfärbten Schrammen übersät, daß er aussah wie ein Clown im gescheckten Kostüm. Er hatte einiges über sich ergehen lassen müssen. Aber er lebte und atmete, und soweit er feststellen konnte, war nichts gebrochen. Beinahe nachträglich wurde ihm klar, daß er Hunger hatte.
    Dann – gar kein Zweifel – bewegte sich etwas. Da hinten, in dem Wirrwarr der Felsen. Und dann wieder: zuckendeEllenbogen, eingezogene Schultern. «Hallo?» rief Ned. Keine Antwort. Er versuchte es nochmals – auf mandingo, soorka und arabisch. Es folgte langes Schweigen, und dann, wie zur Erwiderung, erklang von neuem die Musik. Ned war nicht blöd, lehnte sich an den Felsen und bemühte sich um eine anerkennende Miene. Wenig später begann er, im Takt mit den unsichtbaren Musikanten zu klatschen, während irgendwo links eine Trommel den Rhythmus aufnahm, stetig und sonor, pulsierend wie ein Herzschlag.
    Schüchtern, scheu wie Rehe wagten sie sich vor. Ein Kopf hier, ein Torso da: Versteckspiel. Dann faßten sie mehr Mut, und er sah, daß die Felsen voll von ihnen waren: kleine Menschen, nicht größer als Kinder, die nun hervorkamen und ihn aus friedfertigen dunkelbraunen Augen anstarrten. Sie waren nackt, diese Menschen, ihre Gliedmaßen fasrige Bündel, die Unterleiber geschwollen wie die rundlichen Spitzbäuche von Säuglingen. Und sie waren nicht schwarz – nicht richtig   –, sie hatten eher die Farbe von Eicheln oder Haselnüssen.
    Ned wartete. Er zählte jetzt achtzehn von ihnen, darunter zwei Kinder. Die Musikanten – vier grauhaarige, plattfüßige Knirpse mit Nasenflöten – bliesen immer weiter, und der verborgene Trommler bearbeitete seine Felle. Der ganze Trupp wiegte sich im Rhythmus, und trotz des nagenden Pochens in seinem Ellenbogen klatschte Ned weiter mit. Nun geschah es, daß einer der Männer sich von den anderen löste und auf ihn zukam, seine Füße schlurften, Kopf und Schultern schwangen im eindringlichen Pulsieren der Musik. Er hielt einen winzigen Flitzbogen an die Brust gedrückt – vom Aussehen her eher ein Spielzeug   –, und um die Schulter schlang sich ein Köcher. Seine Brustwarzen waren dunkle Rosetten, gezeichnet von irgendeinem längst vergangenen Unglück   – Feuer? Krieg? Initiationsritus?   –, Schlüsselbeine und Rippen traten hervor,sein Schamhaar war wie ein weißes Drahtknäuel, aus dem der runzlige graue Penis baumelte wie eine Ordensspange. Eine Aureole aus eisgrauem Haar stand kreisförmig von seinem Kopf ab, und seine Kiefer wichen tief in die zahnlose Mundhöhle hinein: er hätte der erste Mensch auf Erden sein können, unser aller Vater. Ned studierte sein Gesicht und versuchte zu ergründen, welche Reaktion angemessen wäre, doch der Ausdruck des Patriarchen war nicht zu entschlüsseln.
    Sie begannen nun zu singen, alle zusammen, ein bizarres, schrilles Heulen, das von Schnalzen und Grunzen durchsetzt war. Zum erstenmal ängstigte sich Ned ein wenig – vielleicht waren sie ja doch nicht ganz so harmlos. Und dann sah er es. In der Hand des Alten
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