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Wassermelone: Roman (German Edition)

Wassermelone: Roman (German Edition)

Titel: Wassermelone: Roman (German Edition)
Autoren: Marian Keyes
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ich zwanzig Stockwerke tief zu Tode stürzen würde. Da der Aufzug zwischen zwei Stockwerken stecken geblieben war, mussten die Feuerwehrleute das Dach abnehmen, um mich herauszuholen.
    An meinem, ich glaube, fünften Tag in London, hielt der Aufzug im fünfzehnten Stock des Hochhauses an, und als sich die Türen öffneten, trat ein sehr asiatisch aussehender Mann ein. Er hatte einen Schäferhund bei sich, der so groß war, dass er sich am Hindernisrennen Grand National hätte beteiligen können, und trug ein langes Küchenmesser unter dem Arm. Außer ihm war nur noch ich in dem Aufzug. Ich empfand eher Interesse als Angst und hatte das Gefühl, versehentlich ins Leben eines anderen Menschen geraten zu sein.
    An meinem vermutlich zehnten Tag in London entblößte sich vor mir ein Mann in der U-Bahn. Ich zuckte mit keiner Wimper – inzwischen hatte ich die Stadt im Griff.

    Sechs Wochen lang war ich arbeitslos, und der Teil meines Ichs, dem es Spaß machte, so zu tun, als wäre er erwachsen, freute sich darüber. Es war für mich ein neues Erlebnis, auf den Markt zu gehen und ungeheuer billig Gemüse einzukaufen, wobei es keine Rolle spielte, dass es schon ziemlich angegammelt war. Oder im Supermarkt Käsereste zu herabgesetzten Preisen zu kaufen. Oder die auf dem Magnetstreifen meiner Wochenkarte gespeicherte Gültigkeitsdauer zu manipulieren, damit ich mir keine neue kaufen musste, wenn sie abgelaufen war. Und natürlich unanständige Summen für Alkohol auszugeben. Das änderte sich nie.

    Nach sechs Wochen bekam ich eine Anstellung. Allerdings war es nicht das, was ich mir vorgestellt hatte. Niemand wollte eine junge Frau mit irischem Juraexamen beschäftigen. Und niemand wollte eine Mitarbeiterin haben, die in Irland in der Verwaltung gearbeitet hatte. Also bekam ich eine Stelle als Kellnerin in einem sehr coolen Lokal namens Videocafé. Ich fand es grandios. Es war mir gleichgültig, dass der Inhaber ein kokainsüchtiger Verrückter war, der Leute nach Lust und Laune rausschmiss. Einmal habe ich eine Geschichte gehört, die vielleicht nicht stimmt: Eines Abends soll er alle Kellnerinnen mit blauen Augen auf die Straße gesetzt haben. Ich würde sagen, dass das totaler Blödsinn ist. Wahrscheinlich hatten sie braune Augen.
    In jenem Lokal habe ich mit Unterbrechungen etwa ein Jahr lang gearbeitet. Dann ging es mit mir aufwärts, und ich fand einen achtbaren Arbeitsplatz, nämlich in einem Büro. Vor etwa sieben Jahren bekam ich dann die Stelle, wo ich heute noch tätig bin. Ich arbeite in der Verwaltung einer Fachhochschule für Architektur, die sich zur Avantgarde zählt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht so recht, warum ich noch dort arbeite, denn mein Interesse an avantgardistischer Architektur ist ebenso groß wie daran, die Pocken zu kriegen. Möglicherweise ist es noch geringer.
    Was in der näheren Umgebung meines Arbeitsplatzes vor sich geht, ist mir absolut rätselhaft. Irrigerweise hatte ich angenommen, bei Architektur gehe es um das Entwerfen und Bauen von Häusern und dergleichen. O nein, so prosaisch ist das nicht! Man ermutigt die Studenten, den »Raum zu erleben«, sich »in eine andere Dimension einzufühlen« und ähnlichem Unsinn.
    Die meisten Studenten und ein großer Teil der Mitarbeiter sind ziemlich überkandidelt, und es vergeht kaum ein Tag, ohne dass ein Student einen Koller bekommt oder zwei Dozenten in wilden Streit miteinander geraten. Es ist wirklich unterhaltsam und macht großen Spaß. Wahrscheinlich ist das der Hauptgrund dafür, dass ich es so lange da ausgehalten habe.

    Eine Weile war ich der Ansicht, dass ich gern als Steuerberaterin arbeiten würde. Daher habe ich mich in Abendkursen ausbilden lassen und bin jetzt geprüfte Steuerbevollmächtigte. Für den Augenblick habe ich alle Pläne, aufzustocken und »richtige« Steuerberaterin zu werden, auf Eis gelegt. Ich hoffe, dass ich sie ganz aufgeben kann, wenn es mit meinem Schreiben so klappt, wie ich mir das vorstelle.

    Weiter vorn habe ich gesagt, dass ich immer »gern einen gekippt« habe. Im Laufe der Jahre hat sich dieser Hang verstärkt. Es ist nach wie vor nicht ganz eindeutig, wann genau ich Alkoholikerin geworden bin. Mit Sicherheit bin ich nicht eines Morgens wach geworden und habe zu mir gesagt: »Tja, gestern Abend habe ich als Alkoholikerin getrunken.« Vermutlich ist es auch nicht wirklich wichtig, wann das war. Entscheidend ist, dass ich jetzt Alkoholikerin war.
    Es war eine zutiefst unangenehme Erfahrung, für
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