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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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vorbeitanzten, und Hayes erwiderte ihr Lachen. Er fühlte sich herrlich, so gut wie nie. Und es ging ihm mit jeder Minute besser. Er glaubte zu wissen, was in ihm vorging. Die Zentrifugalkraft des Tanzes schleuderte die Brocken der Krankheit von ihm weg. Er konnte spüren, wie sie sich lösten, wie er leichter wurde. Lachend zog er Ainsley an sich und drehte sie noch schneller im Kreis, und vor seinem geistigen Auge stiegen die bösen Jahre in einem schwindelnden Tempo auf, in einem Tornado greller Momentaufnahmen. Dann erspähte er Carla, halb verdeckt von anderen … Carla und Donnie, die sich im Tanz bewegten. Das schmollende Mädchen mit den toten Augen, der erloschene junge Mann, der nie mehr erwachsen wurde. Keiner der beiden fand Spaß an dem Tanz. Ein flüchtiger Eindruck, und sie waren verschwunden. Der Anblick erschreckte ihn, aber nach einer Sekunde erkannte er, daß er keinen Grund zur Furcht hatte, daß er sie von seiner Seele getanzt hatte. Hier in Nadoka, mit einem hübschen Provinzmädchen in den Armen, tanzte er den Schmerz fort, tanzte er den Wahnsinn fort, tanzte er alles fort, verlor er seine Vergangenheit durch die Spukmelodien dieser alten amerikanischen Musikautomaten. Reno wirbelte in sein Sichtfeld, gefolgt von Clayton, gefolgt von Punks und blassen New-Wave-Typen und Heavy-Metal-Kids in schwarzem Leder und Chrom, und sie alle verschwanden im Strudel des Tanzes. Hayes hörte, wie sein Lachen anschwoll, sich mit dem Sound der Holzblasinstrumente verflocht, und er spürte, daß er seine Euphorie dämpfen mußte, weil er sich sonst selbst forttanzte …
    »Hayes!«
    … aber das Gefühl war zu schön, zu stark, und eine Melodie mit einem hellen Banjo-Part im Mittelpunkt wirbelte ihn auf eine Maschine zu. Die Posaunen in dem hohlen Holzkasten dröhnten verschwommen.
    »Hayes!«
    Ainsley preßte ihn gegen die Wand des Automaten und sagte etwas, aber die Worte gingen im sentimentalen Schmettern eines fleckigen alten Silber-Saxophons unter, dessen Klappen sich hoben und senkten wie die Mäuler eines bizarren musikalischen Monsters. Sie wirkte beunruhigt, und plötzlich war auch er beunruhigt. Er sah nirgends vertraute Gesichter. Aber vielleicht hatte sich alles tatsächlich ereignet, vielleicht hatte er sie alle gebannt.
    »… bleib heute nacht«, sagte Ainsley.
    Ihr Gesicht wirkte schön, und er konnte jetzt die Details erkennen – das Haargefieder, das von ihrem Brauenansatz ausging, die schwache Spur einer Narbe über ihrer Lippe. Als er sie ansah, war er voller Hoffnung, und er wußte, daß dieses Gefühl nur einen echten Funken brauchte, um Feuer zu fangen und lange, lange Zeit zu brennen. Er hatte seit Jahren nicht mehr so empfunden, und das allein war für ihn ein Zeichen, daß er ein Ziel erreicht hatte, einen neuen Anfang.
    »… nicht in der Verfassung, weiterzufahren«, sagte sie. »Verstehst du mich?«
    Wenn er sich täuschte, nun, dann würde er sich für immer und alle Zeiten täuschen. Vielleicht war es seine Chance, einmal das Richtige zu tun.
    »Ich bleibe«, sagte er.
    Mit einem zitternden Violinen-Crescendo endete die Musik.
     
    Spät in der Nacht erwachte Hayes aus einem bösen Traum und wußte, daß er die eine Erinnerung niemals forttanzen konnte. Die eine Sache, die er Ainsley verschwiegen hatte. Der Mond stand hoch am Himmel, und durch die Ritzen und staubigen Fensterscheiben sickerte soviel silbernes Licht, daß es den Anschein hatte, als umringten ein Dutzend Monde das Haus und strahlten es an. Spinnweben glitzerten, zerbrochenes Glas funkelte, und selbst die Schatten schienen aus einem tiefschwarzen Schimmer gewoben. Der Wind wimmerte unheimlich. Hayes konnte den Traum nicht beiseiteschieben. Die Bilder besaßen nicht genug Realität, daß er sie zu fassen bekam und verscheuchen konnte, aber trotz ihrer Traumqualität glaubte er, daß ein Teil davon wirklich geschehen war.
    Die Nacht, in der er geflohen war. Das Schießeisen in der Tasche, die Schlüssel in der Hand. Reno und Clayton hatten Carla ohne ihn besucht und waren anschließend zur Geburtstagsparty einer Krankenschwester im oberen Stockwerk gegangen. Hayes nützte seine Chance. Er schlich den Korridor entlang, und plötzlich kam ihm die Idee, auch Carla zu befreien. Sie war auf der Straße nicht schlimmer dran als hier. Er sperrte ihre Tür auf. Sie lag nackt im Bett, und das Mondlicht, das in schrägen Streifen durch das Gitterfenster einfiel, verzauberte sie in eine Frau aus Silber und Schatten. Auf dem Boden
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