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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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unterzujubeln.
    Da die örtliche Prominenz in seinem betörenden Netz gefangen saß, blieb auch nur noch er selbst als oberste Instanz zur Lösung erlebter sozialer Spannungen übrig – eben als Adressat der ›Öffentlichen Meinung‹ – wir vernachlässigen hier den alten, schon nicht mehr von dieser Welt vor sich weitergreisenden alten Baron, Viktors Vater.
    Frankenstein wußte, daß er sich zu diesem Zeitpunkt in der kritischsten Phase seiner Forschungen und ihrer praktischen Anwendung befand. Immerhin konnte er bei einer Fortsetzung seiner chemisch-biologisch-physikalischen Versuche damit rechnen, daß er nicht nur der Adressat der ›Öffentlichen Meinung‹ sein würde, sondern gleichsam auch ihr Urheber, zumindest würde er sie zu diesem Zeitpunkt bereits erheblich beeinflußt haben. Es erwies sich daher als unerläßlich, stets zwischen seiner offiziellen Reaktion gegenüber der betroffenen und immer noch durch frische Gräber sensibilisierten Basis und seinen tatsächlich getroffenen spannungsreduzierenden Maßnahmen zu unterscheiden. Leider, leider …« , bedauerte D’Ummél – er klopfte nur noch auf seine Uhr, sein Dilemma signalisierend. Zu viele Beispiele aus dem umwölkten 20. Jahrhundert hätten sich wieder aufgedrängt, so aber: »Nachdem Frankenstein die Erkenntnisse dieses makrosoziologischen Konzepts der ›Öffentlichen Meinung‹ nicht nur in der Theorie vorlagen, sondern er ihre praktische Nutzanwendung bereits täglich beobachten konnte, mußte er sich, um zu einem für seine Person sicheren Abschluß zu kommen, der Konfirmitätsforschung zuwenden – wir sehen Dr. Viktor Frankenstein damit wiederum als Geburtshelfer eines neuen Wissenschaftszweiges, der Vielfältigkeit dieses Genies scheinen keine Grenzen gesetzt. Was für ein Kopf!« rief Dr. II-D’Ummél, von einer Bö der Begeisterung angehaucht, »und wie schwer wurde es ihm von Dummheit und Borniertheit gemacht!« Wie wahr, dachten die Studenten, und traurig: Zeiten mußten das gewesen ein!
    »Der Konfirmitätsforschung also …« – D’Ummél faßte sich zu angebrachter Sachlichkeit – »mußte er sich vor allem zuwenden, weil sich – immerhin zählte nun ein überaus repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung zu ständigen Gästen seines Hauses, er konnte also schlüssig beobachten –, weil sich ihm immer deutlicher etwas wie eine ›Schweigespirale‹ aufdrängte, weil er über ein eigenartiges, wie selbstverständliches ›Konfirmationsverhalten‹ der Leute nicht mehr hinwegsehen konnte, das alle sozialen Schichten gleichermaßen umspann.
    Danach – wir notieren dies als Merksatz –, danach stellte Frankenstein fest: Passen sich im Prozeß der Meinungsbildung die meisten Menschen der gegenwärtigen oder zukünftig vermuteten Mehrheitsmeinung an! Daß Elisabeth Noelle-Neumann in ihrer Exploitation dieses Gedankens Frankenstein nicht erwähnt, ist … ich spare mir einen Kommentar. Auch Karl Marx hat sich mehrfach intensiv mit dieser Problematik befaßt, allerdings auch eher seltener im Zusammenhang mit Viktor Frankenstein. Ihm kann man wenigstens die zeitliche Nähe zugute halten, er mag von den Forschungen seines doch Fast-Zeitgenossen wirklich nichts gewußt haben.
    Frankenstein jedenfalls stellte fest, daß die Menschen, die neuerdings in seinem Schloß vermehrt aus und ein gingen, einander unablässig beobachteten, miteinander redeten, einander aushorchten – sprich: das sogenannte ›Meinungsklima‹ auszuloten versuchten.
    Er stellte eine eindeutige Tendenz fest, eine Tendenz, die eigene Meinung diesen Wahrnehmungen anzupassen! Die Tendenz, die eigene Meinung der erwarteten zukünftigen Mehrheitsmeinung unterzuordnen! Die Tendenz, die eigene Meinung bedenkenlos über Bord zu werfen, um dem allgemeinen ›Meinungsklima‹ zu entsprechen – der Kreis schließt sich damit in gewissem Sinne: Wir stoßen wieder – wie Frankenstein – auf das Phänomen der schon erwähnten ›Isolationsfurcht‹. Diese schöne Bestätigung früheren Denkens machte Frankenstein frohlocken – durfte er nun doch mit Fug hoffen, daß die Furcht der Menschen, sich sozial zu isolieren, die Furcht der Menschen, plötzlich mit einer eigenen Meinung gegen eine Mehrheit zu stehen, die Furcht der Menschen, dem gängigen – und natürlich von ihm gegängelten – ›Meinungsklima‹ nicht zu entsprechen, größer sein würde als ihre Abneigung gegen die Ergebnisse seiner Arbeit im Labor, gegen seine künstlich geschaffenen Mitbürger.
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