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Wassermans Roboter

Wassermans Roboter

Titel: Wassermans Roboter
Autoren: Wolfgang (Hrsg.) Jeschke
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Prozeß abgelaufen sein mochte und welcher gesellschaftlicher Folgen er selbst gewärtig sein müßte, würde er sein naturwissenschaftliches Wirken fortsetzen.
    Was Dr. Viktor Frankenstein zu diesem Zeitpunkt fehlte, war ein allgemein-soziologischer Interpretationsrahmen, der es ihm erlaubt hätte, alle Erscheinungsformen der ›Öffentlichen Meinung‹ auf die ihnen zugrunde liegenden sozialen Prozesse zurückzuführen.
    Als konzeptuellen Ausgangspunkt für die Konstruktion dieses Rahmens nahm er – und das zeigt sein überwältigendes Genie, daß er auf schönfärberisches Umlügen der tatsächlichen Gründe verzichten konnte! – nahm er also natürlich das Auftreten ›seines Monsters‹ beziehungsweise das kollektive Verhalten gegen diese seine Schöpfung.
    Er verschloß sich nicht der Erkenntnis, daß es zu diesem ihm leidvoll bekannten kollektiven Verhalten dann kommt, wenn durch irgendwelche Veränderungen das gesellschaftliche Ordnungsgefüge gestört wird und die vorgegebenen Institutionen nicht in der Lage sind, das gesellschaftliche Gleichgewicht wieder herzustellen. Im nachfolgenden 20. Jahrhundert stellte sich dieses Problem bekanntlich ja nicht mehr, die diversen Polizeiorganisationen waren kraft Anzahl und Bewaffnung jederzeit in der Lage, auch gesellschaftliche Ungleichgewichte auszugleichen. Die Polizeikräfte, die im 20. Jahrhundert zum Korrelat des Medieneinflusses wurden und damit zum Korrekturinstrument funktionierender Demokratie, standen Frankenstein natürlich nicht zur Verfügung. Notieren wir folgenden Merksatz …« – er tippte, grün leuchtete es auf – »Kollektives Verhalten sind damit Versuche von betroffenen Bevölkerungsteilen, ihre akuten gesellschaftlichen Probleme auf eigene Weise zu lösen. Wenn Sie diesen Satz bei Smelser, Neil, J., Theorie des kollektiven Verhaltens, Köln 1972, finden, werden Sie auch hier wiederum den Namen Frankenstein vergeblich suchen. Aber finden wir uns damit ab.
    Frankenstein wußte, daß seine Schöpfung als Störung der gesellschaftlichen Ordnung empfunden und abgehandelt wurde. Institutionen wie Bürgermeisteramt und Dorfgendarmerie – ich habe das schon angedeutet – mußten natürlich machtlos sein. Sobald also für das Volk die Reizschwelle überschritten war, konnte die logische Folgerung nur eine Bürgerinitiative beziehungsweise Selbstschutz sein.«
    D’Ummél blickte auf seine Uhr, er schien mit sich zu kämpfen: »Ich hätte gerne auch hierzu einige Beispiele aus dem vorigen Jahrhundert gebracht – gerade zum nötigen Selbstschutz des Bürgers war dieses 20. Jahrhundert überreich an schönen Beispielen –, aber ich fürchte, ich komme heute nicht dazu … zurück also … zu Frankenstein, der sich, wir haben das schon oft gesehen, genial in die Gedankenwelt seiner Verfolger beziehungsweise der Verfolger seines Geschöpfes einfühlen konnte.
    Ihm war daher das Verhalten dieser Verfolger klar durchschaubar – nämlich in einer für sie selbstverständlichen Vorgangsweise ›strukturelle Spannungen‹ zu beseitigen, etwas gegen die Unstimmigkeiten in den Rahmenbedingungen ihres sozialen Handelns zu unternehmen.
    Frankenstein, in seinem genialen Forscherdrang, gab sich mit diesem Ergebnis nicht zufrieden. Gewohnt, weitverzweigt zu denken, folgte er auch Spuren, die mit seinem eigentlichen Problem nichts zu tun hatten.
    Dem verdankt die Nachwelt einige der aufregendsten Erkenntnisse, vor allem etliche der Gründe für solche zitierten Unstimmigkeiten.
    Dies können, nach Frankenstein, für seine damalige Zeit und für das Jahrhundert danach, sein:
    a) es funktioniert etwas nicht mehr im Bereich der Verteilung der Ressourcen – oja, oja«, quittierte D’Ummél das verständnislos-ungläubige Aufblicken der Studenten, »das gab es, so unwahrscheinlich es klingt, tatsächlich, zum Beispiel sogar Wohnungsnot in Großstädten – obwohl Heirats-, Sterbe- und Geburtsziffern sehr penibel erhoben wurden, etwas wie ›Wohnungsnot‹ also nie und nimmer hätte auftreten dürfen, gab es sie. Das hängt natürlich mit der Unverantwortlichkeit beziehungsweise Verantwortungslosigkeit der damals Verantwortlichen zusammen. Den sogenannten ›Volksvertretern‹, ›Mandataren‹ wie sie auch hießen, ging es immer nur um sich selber, nie um das Volk. Vielleicht lesen Sie dazu die wirklich erhellende Studie von …« – er tippte, es flammte grün – »Matysek, Ottilie, Die Machthaber, Wien 1987. Bitte berücksichtigen Sie, daß die Autorin im
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