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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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Blick schweifen, bevor er zur Tür
geht. »Na dann, gute Nacht«, sagt er.
    »Gute Nacht«, entgegnet Charlie und schließt hinter ihm die Tür.
Dann setzt er sich wieder an den Tisch und schüttet uns beiden noch einen
Whiskey ein. Wir nehmen beide einen kleinen Schluck, dann sitzen wir schweigend
da.
    »Wollen Sie das wirklich?«, fragt er schließlich.
    »Ja.«
    »Wie steht es um Ihre Gesundheit? Brauchen Sie Medikamente?«
    »Nein. Bis auf das Alter fehlt mir nichts. Und ich schätze, das
erledigt sich irgendwann von selbst.«
    »Was ist mit Ihrer Familie?«
    Wieder nippe ich am Whiskey, dann schwenke ich den Rest im Glas
herum und leere es. »Denen schicke ich eine Postkarte.«
    An seinem Blick sehe ich, dass das ganz falsch herauskam.
    »So meine ich das nicht. Ich liebe sie, und ich weiß, sie lieben
mich auch, aber ich gehöre eigentlich nicht mehr zu ihrem Leben. Ich bin eher
eine Pflicht. Deshalb musste ich heute Abend auch alleine herkommen. Sie haben
mich einfach vergessen.«
    Charlie runzelt skeptisch die Stirn.
    Verzweifelt plappere ich weiter. »Ich bin dreiundneunzig. Was habe
ich schon zu verlieren? Ich komme noch größtenteils allein zurecht. Bei einigen
Sachen brauche ich Hilfe, aber längst nicht so viel, wie Sie denken.« Ich
spüre, wie mir Tränen in die Augen steigen, und versuche, auf mein
eingefallenes Gesicht so etwas wie Zähigkeit zu zaubern. Ich bin doch kein
Schwächling! »Lassen Sie mich mitkommen. Ich kann Eintrittskarten verkaufen.
Russ kann alles machen, er ist doch noch jung. Geben Sie mir seinen Job. Ich
kann noch zählen, und ich betrüge niemanden mit dem Wechselgeld. Ich weiß, dass
Sie hier keine Schwindler sind.«
    Charlies Augen werden feucht. Ich schwöre bei Gott, es stimmt.
    Ich habe mich in Fahrt geredet. »Wenn sie mich finden, finden sie
mich. Wenn nicht, rufe ich am Ende der Saison an und gehe zurück. Und wenn in
der Zwischenzeit etwas schiefläuft, dann rufen Sie einfach an und lassen mich
abholen. Was wäre schon dabei?«
    Charlie mustert mich. Ich habe noch nie einen so ernsten Mann
gesehen.
    Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs – er wird nicht ja sagen –
sieben, acht, neun – er schickt mich zurück, warum sollte er auch nicht, er
kennt mich ja gar nicht – zehn, elf, zwölf –
    »In Ordnung«, sagt er.
    »In Ordnung?«
    »In Ordnung. Dann haben Sie etwas, das Sie Ihren Enkeln erzählen
können. Oder Ihren Urenkeln oder Ururenkeln.«
    Ich bin vor Freude und Aufregung ganz außer mir. Charlie zwinkert
mir zu und schüttet noch einen Fingerbreit Whiskey ein. Dann kippt er die
Flasche erneut.
    Ich strecke die Hand nach dem Flaschenhals aus. »Lieber nicht«, sage
ich. »Ich will mir nicht einen ansäuseln und mir die Hüfte brechen.«
    Und dann lache ich, weil alles so unvernünftig ist und so wunderbar,
und es kostet mich Mühe, mich nicht vor Lachen zu schütteln. Ich bin
dreiundneunzig, na und? Was macht es schon, dass ich uralt und schrullig bin
und dass mein Körper ein Wrack ist? Wenn sie bereit sind, mich und mein
schlechtes Gewissen aufzunehmen, warum sollte ich nicht mit dem Zirkus
durchbrennen?
    Es ist so, wie Charlie es dem Polizisten gesagt hat. Für diesen
alten Mann ist das hier sein Zuhause.

Anmerkung der Autorin
    Die Idee zu diesem Buch entstand unerwartet: Als ich
Anfang 2003 in den Vorbereitungen zu einem vollkommen anderen Buch steckte,
erschien in der Chicago Tribune ein Artikel über
Edward J. Kelty, einen Fotografen, der in den 1920ern und 1930ern
Wanderzirkusse durch die USA begleitet hat. Das
Foto zu diesem Artikel fand ich so faszinierend, dass ich zwei Bücher mit alten
Zirkusaufnahmen kaufte, Step Right This Way: The Photographs
    of Edward J. Kelty und Wild, Weird and Wonderful: The
    American Circus as Seen by F. W. Glasier . Nachdem ich sie
durchgeblättert hatte, war es um mich geschehen. Ich gab das geplante Buch auf
und stürzte mich stattdessen in die Welt der Eisenbahnzirkusse.
    Zuerst besorgte ich mir eine Lektüreliste vom Archivar des Circus
World Museum in Baraboo, Wisconsin, dem früheren Winterquartier von Ringling
Brothers. Viele der Bücher waren vergriffen, aber noch über antiquarische
Buchhandlungen zu bekommen. Nur Wochen später fuhr ich nach Sarasota in Florida
zum Ringling Circus Museum, das zufällig gerade doppelte Exemplare aus seiner
Sammlung seltener Bücher verkaufte. Auf dem Rückweg war ich um einige hundert
Dollar ärmer und um mehr Bücher reicher, als ich tragen konnte.
    Während der nächsten
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