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Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten

Titel: Wasser für die Elefanten - Gruen, S: Wasser für die Elefanten
Autoren: Sara Gruen
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wissen. Wenn
Rosemary zurückkommt, frage ich sie, welches Jahr wir haben, damit die Sache
ein für alle Mal geklärt ist. Sie ist sehr nett zu mir, diese Rosemary. Bei ihr
komme ich mir nicht wie ein Dummkopf vor, selbst wenn ich mich wie einer
benehme. Ein Mann sollte wissen, wie alt er ist.
    An so vieles erinnere ich mich glasklar. Etwa an den Tag von Simons
Geburt. Gott, was für eine Freude. Was für eine Erleichterung! Als ich an ihr
Bett trat, fühlte ich mich schwindlig, richtig zittrig. Und da war mein Engel,
meine Marlena, mit einem erschöpften, strahlenden Lächeln und einem
eingepackten Bündel in der Armbeuge. Sein Gesicht war so dunkel und
zerknautscht, dass er kaum wie ein Mensch aussah. Aber als Marlena ihm die
Decke vom Kopf zog und ich sah, dass er rote Haare hatte, dachte ich, ich würde
vor Freude ohnmächtig. Ich hatte eigentlich nie daran gezweifelt – nicht
ernsthaft, und ich hätte ihn so oder so geliebt und großgezogen –, aber
trotzdem. Ich wäre fast umgekippt, als ich sein rotes Haar sah.
    Voll nervöser Verzweiflung sehe ich auf die Uhr. Die Parade ist mit
Sicherheit vorbei. Ach, das ist nicht fair! Diese ganzen Tattergreise haben
doch keine Ahnung, was sie da sehen, und ich sitze hier fest!
    Stimmt das denn?
    Blinzelnd runzle ich die Stirn. Warum glaube ich eigentlich, ich
würde festsitzen?
    Ich schaue nach rechts und links. Niemand da. Ich drehe mich um und
sehe den Flur entlang. Eine Schwester rauscht mit einer Akte in der Hand
vorbei, den Blick auf ihre Schuhe geheftet.
    Ich rutsche vor bis an die Stuhlkante und greife nach meiner
Gehhilfe. Meiner Berechnung zufolge trennen mich nur sechs Meter von der
Freiheit. Na ja, danach muss ich einen ganzen Häuserblock schaffen, aber ich
wette, wenn ich jetzt losmarschiere, kann ich noch die letzten Nummern sehen.
Und das Finale – das macht zwar nicht wett, dass ich die Parade verpasst habe,
ist aber immerhin etwas. Mir wird ganz warm und ich unterdrücke ein Kichern.
Ich mag ja über neunzig sein, aber wer sagt denn, ich sei hilflos?
    Die gläserne Schiebetür öffnet sich automatisch, als ich näher
komme. Gott sei Dank – ich glaube, mit der Gehhilfe und einer normalen Tür wäre
ich nicht fertig geworden. Ich bin tatsächlich etwas wackelig auf den Beinen.
Aber das ist in Ordnung. Mit wackelig komme ich zurecht.
    Von der Sonne geblendet bleibe ich auf dem Gehweg stehen. Ich war so
lange nicht mehr in der echten Welt, dass mir bei dem Konzert aus
Motorgeräuschen, bellenden Hunden und lautem Gehupe ein Kloß in der Kehle
sitzt. Der Strom aus Menschen auf dem Gehweg teilt sich und umspült mich, als
wäre ich ein Stein in einem Fluss. Niemand scheint es merkwürdig zu finden,
dass ein alter Mann in Hausschuhen vor einem Altenheim steht. Aber mir fällt
auf, dass ich noch wie auf dem Präsentierteller stehe, falls eine der
Schwestern in die Eingangshalle kommt.
    Ich hebe die Gehhilfe an, drehe sie ein paar Zentimeter nach links
und setze sie vorsichtig wieder ab. Durch das Scharren der Plastikkappen auf
dem Beton bin ich richtig aufgekratzt. Es ist ein echtes, kerniges Geräusch,
nicht dieses Quietschen oder Getrappel auf Linoleum. Ich tapse hinterher, das
Schlurfen meiner Hausschuhe ist Musik in meinen Ohren. Nachdem ich dieses
Manöver zwei Mal wiederholt habe, blicke ich in die richtige Richtung. Eine perfekte
Wende in drei Zügen. Ich halte mich gut fest und schiebe mich langsam vor,
dabei konzentriere ich mich auf meine Füße.
    Ich darf nicht zu schnell gehen. Ein Sturz hätte jede Menge
ärgerlicher Folgen. Hier gibt es keine Fliesen, deshalb messe ich meinen
Fortschritt in Fußlängen – meinen Fußlängen. Bei jedem Schritt stelle ich die
Hacke des einen Fußes neben die Zehen des anderen. Und so geht es Viertelmeter
um Viertelmeter voran. Gelegentlich bleibe ich stehen, um meinen Fortschritt
abzuschätzen. Es geht langsam, aber stetig weiter. Das rot-weiße Zelt ist jedes
Mal ein wenig größer, wenn ich aufblicke.
    Ich brauche eine halbe Stunde und muss zwei Pausen einlegen, aber
ich habe es fast geschafft und verspüre schon die Siegesfreude. Zwar schnaufe
ich etwas, aber meine Beine tragen mich noch zuverlässig. Bei einer Frau dachte
ich, es gibt Ärger, aber ich konnte sie abwimmeln. Ich bin nicht stolz darauf –
normalerweise rede ich nicht so mit anderen Menschen, schon gar nicht mit
Frauen –, aber ich will verdammt sein, wenn ich mir von übereifrigen Wohltätern
diesen Ausflug verderben lasse. Ich setze keinen
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