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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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mit den ersten Buchstaben beschäftigt, Hörübungen gemacht, das Zusammenlesen probiert, die Anlauttabelle kennengelernt und mit ihr geschrieben. Diese Tabelle enthält Bilder, neben denen jeweils der Anfangsbuchstabe des dargestellten Motivs in großer und kleiner Schreibweise notiert ist. So steht etwa neben dem Bild eines Baumes ein großes und ein kleines B. Kinder können mithilfe dieser Tabelle ganz selbstständig auch schon unbekannte Wörter und damit eigene Texte schreiben, indem sie sich ein Wort lautierend vorsprechen.
    Maike konnte bereits vor Schuleintritt lesen, sie hat letzte Woche schon kleine Briefe verfasst. Allerdings schreibt sie die Buchstaben nicht richtig. Sie hat sich das Schreiben im Kindergarten wohl selbst beigebracht, aber auf diese Art wird sie nur mit Schwierigkeiten später eine flüssige Schreibschrift erlernen.
Dominic spricht Dialekt, bayerisch, er tut sich schwer, Wörter auf Hochdeutsch zu lautieren. Maria ist erst fünf. Sie ist vor allem mit den ganzen organisatorischen Dingen noch völlig überfordert. Sie hält ihr Heft verkehrt herum und findet oft den richtigen Farbstift nicht. Manchmal schreibt sie die Buchstaben spiegelverkehrt und gar von rechts nach links. Ihr Blatt zerknautscht sich auf unerklärliche Weise ständig unter ihrem Arm beim Schreiben, manchmal schreibt sie dann an einer ganz anderen Stelle weiter. Ähnliche Probleme mit solchen Organisations- und Strukturaspekten haben aber auch Josef und Markus, der eine dicke Brille trägt und schon sieben Jahre alt ist. Wenigstens acht von den siebenundzwanzig Kindern meiner Klasse können noch nicht gut Deutsch sprechen, darunter sechs deutsche Kinder, fünf davon wiederum aus einem sozial benachteiligten Elternhaus. Sie sprechen einige Buchstaben falsch, es fehlen Wörter in den Sätzen, die grammatikalische Struktur stimmt noch nicht. Meine Kinder sind praktisch gleich alt — aber in ihrem Entwicklungs- und Lernstand unterscheiden sie zwei, vielleicht gar drei Jahre. Doch ab heute spielt es in bestimmten Momenten keine Rolle mehr, wie unterschiedlich die Kinder sind.
    Ich kündige die Probe an. Gleiche Aufgaben zum gleichen Zeitpunkt für alle. Das ändert die Situation im Klassenzimmer schlagartig. Jetzt gehen alle auf die gleiche Startlinie, die zarte Chloe, die große Clara und auch Anna, die vor ein paar Tagen erst begonnen hat, mit mir zu sprechen. Jetzt müssen alle die gleichen Prüfungsaufgaben bearbeiten. Das heißt: Alle schriftlich auf dem Papier und auch alle in der gleichen Zeit. Es ist ganz egal, ob ein Kind motorisch noch ungeschickter ist oder etwas verträumt. Ob es in sich noch unsicher ist oder ob es schon sehr selbstbewusst in die Welt blickt. Ob es daheim ruhige, förderliche Bedingungen vorfindet oder täglich mit der alkoholabhängigen Mutter oder dem pflegebedürftigen Opa konfrontiert ist.
    Beim Bearbeiten der Aufgaben dagegen sind Gleichheit und Gerechtigkeit sehr wichtig. Die Leistungsmessung und -beurteilung hängen davon ab. Daher: Abschauen verboten. Zu
Anfang meiner Lehrerlaufbahn habe ich vorschriftsmäßig etwas zwischen die Kinder stellen lassen. Einige Jahre später konnte ich mit viel liebevoller Mühe erreichen, dass die Kinder auch ohne Sichtschutz nicht zum Nachbarn schauten. Mir schien das ein wenig entspannter. Dennoch ist auch diese Situation vollkommen unnatürlich. Kinder würden immer abschauen — nicht weil sie betrügen wollen, sondern weil sie gewohnt sind, Dinge gemeinsam zu machen. Sie wollen einander einfach helfen, sich unterstützen und Hilfe bei jemand anderem einholen, wenn sie selbst nicht weiterkommen. Sie wollen sich selbst kontrollieren und sich versichern, dass sie ihre Aufgaben richtig machen. Aber das darf von Staats wegen jetzt nicht sein. Denn sonst können wir Lehrer nicht messen, welche Leistung jedes einzelne Kind erbracht hat. Das heißt, ich muss die Kinder ermahnen, ja, ich muss ihnen damit drohen, das Blatt wegzunehmen, wenn sie in der Probensituation das machen, wozu ich sie im normalen Unterricht anhalte, aber was sie mit fortlaufender Schulerfahrung auch deshalb immer weniger tun werden: kooperieren. Mit strafenden Worten muss ich soziales Miteinander ersticken. Seit einiger Zeit gibt es speziell gefertigte Papp-Stellwände, die wir benutzen müssen. Früher haben die Kinder ihre Schulranzen auf den Tisch gestellt, sodass nur noch wenig
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