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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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Licht auf ihr Blatt gelangte. Teilweise hatten die Kinder dann kaum mehr Platz zum Schreiben, wenigstens das ist jetzt etwas besser geworden.
    Was auch immer man tut, ob man vorher beispielsweise noch Entspannungsübungen macht oder eine Bewegungsphase einfügt: Die Atmosphäre im Raum ändert sich durch die Probe schlagartig. Die Kinder haben Angst. Die Kinder geraten in Stress und unter Druck.
    Wenn sie sich nicht bei der ersten Probe fürchten, so doch spätestens bei der zweiten oder dritten. Ich kann da hundertmal sagen, dass es nicht schlimm ist, wenn etwas nicht gelingt, glaubhaft ist das nicht. Ich fühle mich abscheulich, denn ich lüge. Selbstverständlich macht es einen Unterschied — einen bedeutenden, einen lebensentscheidenden. Die Kinder spüren genau, dass hier ihr Lebensweg vorgezeichnet wird. Ihre Eltern
schärfen ihnen zu Hause ein, was alles von diesen Proben abhängt. Da kann man die Situation schönreden, wie man will: Noten wären eine Grundlage für individuelle Förderung oder Kinder wollten Noten — Noten sind ein Urteil und noch dazu ein sehr schwerwiegendes. In Bayern erhalten die Kinder nach der vierten Klasse — wie es so schön heißt — eine Empfehlung, ob sie für den Besuch des Gymnasiums, der Realschule oder der Hauptschule geeignet sind. Ausschlaggebend für diese Empfehlung und damit für den Übertritt sind einzig die Noten in den Fächern Mathematik, Deutsch sowie Heimat- und Sachunterricht (HSU). Von diesen Noten hängt der weitere Lebensweg ab. Das wissen auch die Kinder — oft schon in der ersten Klasse.
    Endlich ist es still in der Klasse. In der heutigen Probe sollen die Kinder Wörter mithilfe der Anlauttabelle schreiben oder auch Wörter lesen und mit dem richtigen Bild verbinden. Ich weiß eigentlich schon jetzt, wer wie abschneiden wird, wer welche Aufgabe lösen wird. Ich kenne meine Kinder und weiß, was jeder einzelne von ihnen als Nächstes bräuchte, was jeder von ihnen zu diesem Zeitpunkt kann. Ich weiß auch, dass kaum einer auf diesem Blatt Papier tatsächlich zeigen wird, was er schon alles vermag, die meisten Kinder können in Wirklichkeit viel mehr. Es hängt von so vielen Dingen ab, ob es Steffi und Jörg heute gelingt, das „z“ in „Herz“ zu hören, ob sie in den kommenden Jahren die Sachaufgabe richtig erfassen oder Auskunft über die Wahlbedingungen bei Gemeinderatswahlen geben können.
    Welches Wetter ist heute, hat es gerade geschneit oder ist Föhn? Hatten sie heute Morgen Ärger mit der Mama oder haben sie einen toten Igel auf der Straße gesehen und das Gesehene lässt sie nicht los? Ist der Stift, mit dem sie schreiben möchten, weil er so schön lila ist, gerade nicht zu finden? Haben sie für die Pause heute Brot mit Cremekäse dabei, den sie gar nicht mögen? Oder ist es nur einer der ganz offensichtlichen Gründe, die dafür verantwortlich sind, dass Kinder jetzt und in späteren Jahren nicht auf ihr Wissen zugreifen können? Etwa, weil Kinder vieles können, aber noch nicht fähig sind, das schriftlich auszudrücken? Weil sie die Fragestellung nicht lesen können
oder nicht verstehen? Weil sie Angst haben? Weil sie in Stress geraten? Weil sie innerlich blockiert sind? Weil ihnen einfach nichts einfallen will? Weil sie schon ahnen, dass es Ärger mit den Eltern gibt, wenn sie nur die halbe Punktzahl nach Hause bringen? Weil sie unsicher werden und allein deshalb Fehler machen?
    Maria blickt mich mit fragenden Augen an, doch ich darf ihr nicht helfen. Bei Jose merke ich, dass er kreuz und quer arbeitet und dadurch Aufgaben auslässt. Philipp hält den Stift krampfhaft und ist den Tränen nahe. Fast beneidet man die Kinder, die noch verträumt aus dem Fenster schauen, nach zehn Minuten gerade mal die erste Aufgabe bearbeitet haben und lieber noch Bildchen ausmalen. Lange werden sie sich diese Ruhe nicht bewahren können.
    Nach fünfundzwanzig Minuten ist Abgabe.
    Bei der Korrektur bestätigen sich meine Vermutungen: Maike hat die Aufgaben in wenigen Minuten gelöst, sie kennt die Buchstaben ja schon und muss nicht mühsam in der Tabelle nachsehen. Dass sie die Buchstaben im falschen Bewegungsablauf schreibt, spielt bei dieser Probe keine Rolle, die Bewertungskriterien sind andere. Sie kann sich über die volle Punktzahl freuen. Paul dagegen muss jeden Buchstaben mühsam in der
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