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Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Was wir unseren Kindern in der Schule antun

Titel: Was wir unseren Kindern in der Schule antun
Autoren: Sanbine Czerny
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Anlauttabelle suchen. Diejenigen, die wir durchgenommen haben, kennt er gut, aber er soll ja auch unbekannte schreiben. Daheim gibt es niemanden, der mit ihm täglich zwei, drei Wörter anhand der Tabelle übt. So ist er mit der Vielzahl der Buchstaben und Bilder überfordert. Das fünfte Bild lautierend, hat er vergessen, welchen Buchstaben er ursprünglich gesucht hat. Er konnte nur die Hälfte der Aufgaben bearbeiten. Anja geht es da besser. Ihre Mama muss nicht arbeiten und nimmt sich am Nachmittag Zeit. Durch die regelmäßige Übung findet Anja die Buchstaben inzwischen recht schnell. Lars besucht jetzt schon eine Hausaufgabenbetreuung, seine Eltern können es sich leisten und so bekommt er am Nachmittag noch mal alles pädagogisch aufbereitet erklärt. Aufgewachsen mit Schränken voller Bücher und einer täglichen Gutenachtgeschichte von Oma tut er sich sowieso leicht. Dominik überhört noch einige Buchstaben
oder spricht diese falsch aus. Er schreibt „Ost“ statt „Ast“ und „Rosn“ statt „ Rose“, wie es der schöne bayerische Dialekt nun mal hergibt. Als Fehler muss ich es werten, obgleich er eigentlich die Buchstaben richtig gehört hat — nur eben bayerisch, und nicht hochdeutsch. Da nützt mir all mein Verständnis für die Situation nichts, eine individuelle Bewertung ist hier nicht vorgesehen.
    Zwei Tage später gebe ich die Probe zurück, am nächsten Tag sollen die Kinder sie unterschrieben wieder mit in die Schule bringen. Maike springt wie erwartet vor Freude in die Luft. „Ich habe volle Punktzahl“, ruft sie, „ich kann alles!“ Das mit der flüssigen Handschrift wird sowohl ihr als auch ihren Eltern in den nächsten Jahren unwichtig sein. Dominik sieht die vielen roten Korrekturen und fängt an zu weinen. Sicher, ich habe auch probiert, Lila und in Grün zu korrigieren, da Rot doch etwas aggressiv und heftig ist — es macht aber nicht wirklich einen Unterschied. Dass Dominik wie üblich sehr darauf geachtet hat, alles ordentlich zu machen, und sich müht, jeden Buchstaben wie gedruckt in die Zeilen zu schreiben, findet nur in meiner Bemerkung unter der Probe einen Widerhall. Ebenso, dass ich seinen bayerischen Dialekt sehr schön finde. An der Anzahl der erreichten Punkte ändert es nichts. Natürlich versuche ich als Lehrerin aufzufangen, wenn Kinder die Fragen nicht beantworten konnten. Sage ihnen, dass das nicht schlimm sei, dass sie das noch lernen werden. Da setzt sich Chloe auf meinen Schoß, zeigt mir ihre acht von dreizehn Punkten, schaut mich an und fragt mich: „Hast du mich jetzt noch lieb?“ Markus trägt seine vier Punkte mit Gelassenheit. „Ich weiß schon, dass ich auf die Hauptschule gehen werde“, sagt er, „mein Papa war da auch und der sagt, das ist ganz gut für mich.“
    Wenn die Kinder am nächsten Tag die Probe unterschrieben zurückbringen, liegt der einen oder anderen ein Zettel bei. Manche Eltern erkundigen sich jetzt schon nach der Punkteverteilung — wohlgemerkt nach der Punkteverteilung, nicht danach, was ihr Kind kann oder nicht kann —, andere bitten um einen Termin in der Sprechstunde: Was sie denn tun könnten?! Eric war das fünfte Kind dieses Jahr, das mir nach dem Umsetzen
der Kinder auf andere Plätze einen entsetzten Blick zuwarf, beinahe zu weinen begann, mir am nächsten Morgen einen Brief entgegenstreckte und sagte: „Von meiner Mami, soll ich dir geben.“ In dem Brief steht dann so etwas wie: „Sehr geehrte Lehrerin, Ihr Schüler Eric ist seit zwei/drei/vier Jahren bei mir in Behandlung, er leidet unter einer auditiven Wahrnehmungsstörung. Aus ärztlicher Sicht ist dringend angeraten, ihn nur in der ersten Reihe sitzen zu lassen.“ So viele privilegierte Plätze wie ich bräuchte — vorn bei mir und nahe an der Tafel — habe ich gar nicht …
    Der Grund des Übels: Proben statt Lernzielkontrollen
    Noch vor wenigen Jahren wurden in der ersten und zweiten Klasse keine Proben geschrieben. Damals gab es Lernzielkontrollen. Im Sommer 2005 änderte sich das in Bayern mit der Wiedereinführung der Noten für die Schüler der zweiten Klassen. In anderen Bundesländern passiert Ähnliches früher oder später, die „Proben“ werden auch überall unterschiedlich benannt. Aufgrund der deutschlandweit gültigen Vorgaben
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