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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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betreffende Mensch aufgewachsen ist und in der er lebt. Wo also beginnt und wo endet das individuelle Gehirn? Wo ist und wer zieht die Grenze für das, was die Neurobiologie als den eigentlichen Gegenstand ihrer Forschungsbemühungen betrachtet? Haben wir, hat die Naturwissenschaft eine Sprache dafür, mit deren Hilfe sich auf verständliche Weise beschreiben ließe, was auf so untrennbare und komplexe Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig ist? Mit den bisherigen linearen und monokausalen Denkmustern und den klassischen naturwissenschaftlichen Beschreibungsformen und -formeln lassen sich derartige, nur ganzheitlich zu begreifende Zusammenhänge nicht mehr erfassen und auch nicht an andere vermitteln.
    Die klassische Naturwissenschaft hat damit etwas erreicht, was man ihr noch vor einigen Jahren kaum zugetraut hätte: Sie hat die Grenzen gesprengt, die sie einst selbst ziehen musste, um sich als Naturwissenschaft eine eigene Daseinsberechtigung zu schaffen. Damit ist sie nach der Quantenphysik nun auch auf dem Gebiet der Biologie, speziell im Bereich der Neurobiologie, wo sie sich mit besonders komplexen Phänomenen befasst, an einem Punkt angekommen, den die Mystiker vergangener Zeiten ebenfalls schon erreicht hatten: Bei der Erkenntnis, dass alle beobachtbaren Erscheinungen auf eine Weise miteinander verbunden und voneinander abhängig sind, die sich nicht mehr mit einfachen Worten beschreiben, bestenfalls noch in verschwimmenden Bildern erfassen oder einfach nur noch erspüren lässt.
    So kann ich Ihnen zum Schluss dieses Buches nur wünschen, dass es Ihnen gelingt, aus all diesen Erkenntnissen, die ich hier darzustellen versucht habe, diejenigen herauszuspüren, die Ihnen für die Gestaltung Ihres eigenen Lebens tatsächlich in irgendeiner Weise bedeutsam sein könnten.
    Oder Sie machen es wie ich. Ich versuche nämlich gerade herauszufinden, welcher Tag der alltäglichste Tag war, den ich in meinem Leben bisher erlebt habe. Er will mir nicht einfallen. Der zweit- und drittalltäglichste auch nicht.
    Offenbar leide ich schon an altersbedingtem Gedächtnisschwund, einer senilen Demenz für das Alltägliche. Was für ein Geschenk des Himmels oder meinetwegen auch meines Hirns! Das ist die schönste Krankheit, die ich mir vorstellen kann: sich einfach an all das nicht mehr erinnern zu können, was ganz unwichtig, ganz bedeutungslos, eben ganz alltäglich ist. Am stärksten war ich von dieser senilen Demenz für das Alltägliche befallen, als ich noch ein kleiner Junge war. Seither ist es – dank der eifrigen Bemühungen von aufgeregten, Aufmerksamkeit erheischenden Lehrern, Ausbildern und nicht zuletzt der Medien – damit etwas besser geworden. Jetzt kann ich mich sogar noch einigermaßen an die letzte Sitzungsrunde des Vorbereitungskomitees zur Durchführung der Wahlen zum Betriebsrat erinnern. Der Redner sagte gerade zum siebten Mal: »Jetzt müssen wir also ……« Ich dachte noch: »So oft kann man doch in anderthalb Stunden gar nicht müssen. Oder glaubt der, wir hätten es alle an der Prostata?«
    Damals, als ich fünf war, wäre ich einfach aufgestanden und rausgegangen. Damals hätte ich mich auch an rein gar nichts von dieser Sitzung erinnern können. Aber das hatte ich ja schon mit Bedauern festgestellt: Die Demenz für das Alltägliche verschwindet allmählich, je älter man wird. Deshalb braucht man für diese Erkrankung auch keine Pillen zu nehmen, jedenfalls nicht mehr in meinem Alter.
    Wenn ich heute aber erst fünf Jahre alt wäre, hätte ich sicher Ritalin bekommen, denn ich hätte den Alltag in der Schule nicht ausgehalten, ohne ihn durch irgendeine verrückte Aktion zu einem besonderen Tag zu machen, einen Tag, an den ich mich auch später noch hätte erinnern können.
    Machen Sie was draus! Sie müssen nicht, aber sie könnten, wenn Sie wollten … An Ihrem Gehirn liegt es jedenfalls nicht, wenn Sie auch in Zukunft glauben, so weitermachen zu müssen wie bisher.

Über Gerald Hüther
    Dr. rer. nat. Dr. med. habil. Gerald Hüther, geb. 1951, ist Professor für Neurobiologie an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Zuvor, am Max-Planck-Institut für experimentelle Medizin, hat er sich mit Hirnentwicklungsstörungen beschäftigt; als Heisenbergstipendiat hat er ein Labor für neurobiologische Grundlagenforschung aufgebaut. Gerald Hüther ist Präsident der Sinn-Stiftung (www.sinn-stiftung.eu) und Autor zahlreicher Bestseller, darunter ›Biologie der Angst‹,
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