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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Erfahrungen als die, die wir heute in unseren Familien, Kommunen, Ausbildungsstätten, Betrieben und Altersheimen machen. Deshalb haben wir heute auch ein anderes Gehirn. Deshalb denken, fühlen und handeln wir heute anders als sie, und deshalb entfalten wir heute unsere Potentiale anders als sie damals. Aber diese Potentiale konnten damals und können auch heute Menschen nur gemeinsam entfalten. Nicht in Gemeinschaften, die Ameisenstaaten, Herden oder Schwärmen ähneln, sondern in individualisierten Gemeinschaften, in denen es auf jedes einzelne Mitglied ankommt, wo jeder Einzelne die in ihm angelegten besonderen Begabungen entfalten und mit seinen besonderen Fähigkeiten zur Entfaltung der in diesen Gemeinschaften verborgenen Potentiale beitragen kann.
    Möglicherweise ist es das Geheimnis solcher individualisierten Potentialentfaltungsgemeinschaften, dass sie eine innere Organisation entwickeln, die der des menschlichen Gehirns in vieler Hinsicht sehr nahekommt. Tatsächlich funktionieren alle nicht durch Zwänge zusammengehaltenen, entwicklungsfähigen Gemeinschaften so ähnlich wie zeitlebens lernfähige Gehirne: Sie lernen durch Versuch und Irrtum, sie entwickeln flache, stark vernetzte Strukturen, sammeln Erfahrungen und passen ihre innere Organisation immer wieder neu an sich ändernde Rahmenbedingungen an. Durch sich selbst optimierende kommunikative Vernetzungen auf und zwischen den verschiedenen Organisationsebenen gelingt es ihnen, nicht nur möglichst rasch und effizient, sondern auch möglichst umsichtig und nachhaltig auf neue Herausforderungen zu reagieren. Ebenso wie es Gehirne gibt, in denen die Kommunikation zwischen rechter und linker Hemisphäre und zwischen »oben« und »unten« nicht so recht gelingt, gibt es auch Gemeinschaften mit entsprechenden Blockaden, Abspaltungen, Zwangsstrukturen und eingefahrenen Bahnen. Solche Gemeinschaften mögen zwar noch für eine gewisse Zeit überleben; lebendig, flexibel und vor allem kreativ und innovativ sind sie mit Sicherheit nicht.
    Und auch in dieser Hinsicht geht es einer menschlichen Gemeinschaft nicht anders als einem Gehirn: Die Vielfalt neuer Ideen, die es hervorbringt, gibt wie ein Seismograph Auskunft über seinen inneren Zustand. Und der ist in allen Gemeinschaften, die nur noch damit beschäftigt sind, ihre bisher entwickelten Strukturen zu erhalten, offenbar genau so schlecht wie der eines Gehirns, dessen Besitzer im Lauf seines Lebens seine ursprüngliche, angeborene Neugier, Begeisterungsfähigkeit und Gestaltungslust verloren hat.
    Mit Hilfe der sogenannten bildgebenden Verfahren (funktionelle Magnetresonanztomographie) lässt sich nachweisen, dass im Gehirn eines kreativen Menschen gleichzeitig mehr und entfernter voneinander liegende Netzwerke aktiviert werden, wenn er ein bestimmtes Bild betrachtet, einem Gedanken folgt oder ein Problem löst. Hirntechnisch können kreative Lösungen also nur dann gefunden werden, wenn es einem Menschen gelingt, sehr viele, sehr verschiedene und bisher voneinander getrennt abgelegte Wissens- und Gedächtnisinhalte gleichzeitig wachzurufen und die für die Aktivierung dieser Inhalte erforderlichen regionalen Netzwerke auf eine neue Weise miteinander zu verknüpfen. Kreativ sein heißt also nicht in erster Linie, Neues zu erfinden, sondern das bereits vorhandene, aber bisher voneinander getrennte Wissen auf eine neue Weise miteinander zu verbinden. Wer nicht viel weiß, kann daher nur innerhalb seiner engen Wissensgrenzen kreativ sein.
    Für menschliche Gemeinschaften heißt das, dass sie, um ihre Potentiale entfalten und sich weiterentwickeln zu können, auf Begegnungen und Austausch mit anderen Gemeinschaften angewiesen sind.
    Solche Begegnungs- und Austauschprozesse sind allerdings oft schwierig, vor allem dann, wenn sich einzelne Gemeinschaften über längere Zeit voneinander getrennt und unabhängig voneinander entwickelt haben und sie dabei eigene, für die jeweilige Gemeinschaft spezifische Muster und Strukturen herausgebildet haben. So verfügt jede Familie, jede Sippe, jede menschliche Gemeinschaft über ein charakteristisches Spektrum an Signalen, Ausdrucksformen, Verhaltensweisen, Regeln und Vorschriften, Einstellungen und Haltungen, Erfahrungen und Überlieferungen, die das Ausmaß und die Art der Beziehungen bestimmen, die die Mitglieder solcher Gemeinschaften untereinander, zu anderen Gemeinschaften, aber auch zu einzelnen Phänomenen ihrer jeweiligen Lebenswelt einzugehen in der Lage sind.
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