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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Kinder.
    Deshalb ist es gut, dass es noch eine andere Beziehungsform gibt, in der wir Menschen uns nicht nur als Kind, sondern ein ganzes Leben lang ebenfalls gleichzeitig verbunden und frei erleben können: Geteilte Aufmerksamkeit,
»shared attention«
, nennen das die Psychologen. Diesen Zustand erlebt ein Kind immer dann, wenn es zusammen mit seiner Mutter ein Bilderbuch betrachtet, wenn es zusammen mit anderen Kindern einen Turm baut, gemeinsam mit anderen singt, tanzt, musiziert, malt oder etwas bastelt. Immer dann, wenn das geschieht, fühlt sich das Kind in diesem gemeinsamen Tun aufs engste mit allen anderen verbunden. Aber es ist gleichzeitig auch frei und autonom und kann sich mit allem, was es kann und was es interessiert, in dieses gemeinsame Tun einbringen. Dann werden seine beiden Grundbedürfnisse gestillt, dann wächst es in diesem gemeinsamen Tun mit den anderen über sich hinaus. Dann ist ein Kind sogar bereit, seine eigenen augenblicklichen Interessen zurückzustellen, sich anzustrengen, auf die anderen zu achten, sie zu ermutigen und anzuspornen, damit das gemeinsame »Werk« gelingt.
    Es wäre für die Potentialentfaltung unserer Kinder die beste Hilfestellung, wenn wir als Erwachsene ihnen möglichst viele Gelegenheiten böten, diesen Zustand geteilter Aufmerksamkeit zu erleben. Dazu müssten wir mit ihnen gemeinsam beobachten, bauen, entdecken und gestalten, was es in unserer Welt zu entdecken und zu gestalten gibt. Und wir müssten uns gemeinsam mit ihnen um all das kümmern, was unserer Zuwendung bedarf.
    Wir könnten unter »Erwachsensein« etwas anderes verstehen
    Den meisten Erwachsenen gelingt es selbst nur schwer, ihre beiden Grundbedürfnisse nach Verbundenheit und Autonomie unter einen Hut zu bringen. Viele versuchen, ihr Bedürfnis nach Verbundenheit, Nähe und Geborgenheit zu stillen, indem sie eine Familie gründen. Und ihrem Bedürfnis nach Aufgaben, an denen sie wachsen und über sich hinauswachsen, ihre Potentiale entfalten, autonom und frei werden können, versuchen sie gerecht zu werden, indem sie einen Beruf erlernen, dem sie dann weiter nachgehen und sich dabei mehr oder weniger erfolgreich zeigen können: Geld verdienen, Anerkennung finden, und wenn sie sich besonders anstrengen und Glück haben, auch Karriere machen. Optimal ist diese Zweiteilung nicht, aber anders ist es bisher nicht gegangen. Die Männer befinden sich schon sehr lange in diesem Dilemma. Die Frauen in unserem Kulturkreis sind erst seit wenigen Generationen dabei, sich aus ihrer bisherigen Abhängigkeit und ihrer beruflichen Benachteiligung zu befreien. Sie erlernen inzwischen hochqualifizierte Berufe, stehen dort »ihren Mann«, haben Erfolg, machen Karriere und geraten nun immer stärker selbst genau in dieses Dilemma hinein, in dem die Männer schon so lange gefangen sind. So sind es inzwischen nicht nur die Männer, sondern auch ihre Frauen, die an der Unvereinbarkeit ihres familiären und beruflichen Engagements leiden. Eine Lösung ist nicht in Sicht. Manche Männer, und inzwischen auch immer mehr Frauen versuchen, das Dilemma der Unvereinbarkeit ihrer beiden Grundbedürfnisse zu lösen, indem sie auf eine feste Partnerbeziehung, auf Familie und Elternschaft verzichten. So können sie sich auf die ungehinderte Entfaltung ihrer Potentiale, auf ihre autonome Entwicklung und beruflichen Gestaltungsmöglichkeiten konzentrieren. Dabei bleibt ihr zweites Grundbedürfnis nach Nähe, Verbundenheit und Geborgenheit allerdings meist ungestillt. Für eine gewisse Zeit lässt sich das daraus erwachsende Gefühl der Unzufriedenheit durch berufliche Erfolge, durch Karriere und die Erlangung von Geld, Ansehen und Einfluss kompensieren. Auf Dauer geht das freilich nicht, auch wenn man sich dabei noch so sehr anstrengt. Irgendwann kommt es wieder hoch, dieses Gefühl des Alleinseins, und dann ist es oft für eine Familiengründung bereits zu spät. Es ist ja das Wesen eines Dilemmas, dass es sich nicht lösen lässt, indem man mehr Gewicht auf eine der beiden Seiten legt.
    Im Augenblick fällt es noch sehr schwer, sich die Metaebene vorzustellen, die wir finden müssten, um aus dieser Zerrissenheit zwischen beruflicher Entfaltung und familiärer Verbundenheit herauszufinden. Möglicherweise lässt sich dieses Problem künftig dadurch lösen, dass wir, wie bereits erwähnt, ein neues, anderes Verständnis dessen entwickeln, was wir seit dem Beginn der Industrialisierung als »Arbeit« zu betrachten gewohnt sind:
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