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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Gefühl auch zum Ausdruck gebracht wird. Dieser enge Kontakt zum Kind und die Rückversicherung, dass es noch emotional »dabei ist«, lässt sich beim Märchenerzählen besser erreichen als beim Vorlesen. Rekorder oder Videogeräte sind in dieser Hinsicht gänzlich ungeeignet, denn solche Apparate können sich einfach nicht auf die Reaktionen oder Äußerungen des Kindes einstellen. Sie lassen die Kinder mit ihren Gefühlen allein. Das Zaubermittel sind also nicht die Märchen per se, sondern das entscheidende Zaubermittel ist die emotionale Beziehung zum Inhalt und den Personen des Märchens, auf die sich das Kind beim Hören des Märchens mit der einfühlsamen Hilfe des Erzählers oder Vorlesers einlässt. Erst so wird aus dem Märchen Kraftfutter für Kindergehirne.
    Aber das ist noch nicht alles, denn im Gehirn derjenigen, die diese Märchen den Kindern erzählen oder vorlesen, passiert ja auch etwas. In seinem oder ihrem Gehirn werden alte Erinnerungen wach, nicht nur Erinnerungen an den genauen Inhalt der Geschichte, sondern vor allem Erinnerungen daran, wie es damals war, als ihm oder ihr als Kind diese Märchen vorgelesen worden sind. Dann wird die Atmosphäre von damals wieder wach, das schöne Gefühl, die Erfahrung der intensiven Begegnung mit einem lieben Menschen. Oft kommen sogar die alten Körpergefühle wieder, das Kuscheln, Schaudern und Kribbeln und der Sessel, das Sofa oder das Bett, in dem einem die Märchen vorgelesen wurden. All das taucht erneut ganz deutlich spürbar aus dem im Hirn abgespeicherten Erfahrungsschatz der frühen Kindheit auf. Weil sie im Allgemeinen solche frühen, emotional positiv bewerteten Erinnerungen wachrufen, machen die alten Märchen auch uns Erwachsene auf eine geheimnisvolle Weise wieder stark. Die innere Unruhe, die Sorgen und Ängste verschwinden. Man fühlte sich dann irgendwie besser, gestärkter und zuversichtlicher, mutiger und befreiter, gleichzeitig gefestigter und verwurzelter. Märchen sind also auch Balsam für die Seelen von Erwachsenen.
    Aber das ist noch immer nicht alles. Märchen transportieren nicht nur Geschichten, sondern auch die dazugehörigen Bilder, die in ihnen enthaltenen Botschaften über die Erfahrungen einer bestimmten Familie, Sippe, Gemeinschaft, also letztlich eines bestimmten Kulturkreises zu den in diesen Kulturkreis hineinwachsenden Kindern. Sie schaffen so eine gemeinsame Plattform von Vertrautem und Bekanntem, von den Mitgliedern dieser Gemeinschaft gestaltetem und innerhalb dieser Gemeinschaft sich ausbreitendem Wissen. Sie wirken daher identität-stiftend und festigen auf diese Weise den Zusammenhalt einer Gemeinschaft.
    Mit anderen Worten: Märchen sind auch Kitt für den Zusammenhalt einer Kulturgemeinschaft.
    Alles, was die Beziehungsfähigkeit von Kindern – zu sich selbst, zu anderen Menschen, zur Natur und zur Kultur, in der sie leben – verbessert, ist die wichtigste »Entwicklungshilfe«, die wir unseren Kindern bieten können. Indem Kinder mit sich selbst, mit anderen Menschen und dem, was sie umgibt, in Beziehung treten, stellen sie auch in ihrem Gehirn Beziehungen zwischen den dabei aktivierten neuronalen Netzwerken her, erhöhen sie das Ausmaß der Konnektivität. Die Gelegenheiten, bei denen Kindern das gelingt, sind Sternstunden für Kindergehirne.
    Auch im gemeinsamen, unbekümmerten und nicht auf das Erreichen eines bestimmten Zieles ausgerichteten Singen erleben Kinder solche Sternstunden. Sie sind Balsam für ihre Seele und Kraftfutter für ihr Gehirn.
    In solchen Augenblicken werden in ihrem Gehirn gleichzeitig sehr unterschiedliche Netzwerke aktiviert und miteinander verknüpft. So kommt es beim Singen zu einer Aktivierung emotionaler Zentren und einer gleichzeitigen positiven Bewertung der dadurch ausgelösten Gefühle. Das Singen wird also normalerweise mit einem lustvollen, glücklichen, befreienden emotionalen Zustand verkoppelt (»Singen macht das Herz frei«). Das gemeinsame, freie und lustvolle Singen führt auch zu sozialen Resonanzphänomenen. Die Erfahrung von »sozialer Resonanz« ist eine der wichtigsten Ressourcen für die spätere Bereitschaft, gemeinsam mit anderen Menschen nach Lösungen für schwierige Probleme zu suchen (»wo man singt, da lass’ Dich ruhig nieder, böse Menschen haben keine Lieder«). Gemeinsames Singen mit anderen aktiviert auch die Fähigkeit zur »Einstimmung« auf die anderen und schafft so eine emotional positiv besetzte Grundlage für den Erwerb sozialer
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