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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Kompetenzen (Rücksichtnahme, Einfühlungsvermögen, Selbstdisziplin und Verantwortungsgefühl). Weil das Singen am Anfang immer mit anderen und mit der dabei empfundenen positiven emotionalen Besetzung erfolgt, kommt es zu einer sehr komplexen Kopplung, die später im Leben, auch beim Singen ganz allein für sich, wieder wachgerufen wird (Singen macht froh und verbindet). Beim Singen kommt es individuell zu sehr komplexen Rückkopplungen zwischen erinnerten Mustern (Melodie, Tempo, Takt) und dem zum Singen erforderlichen Aufbau sensomotorischer Muster (Wahrnehmung und Korrektur der eigenen Stimme). Singen ist also ein ideales Training für Selbstreferenz, Selbstkontrolle, Selbststeuerung und Selbstkorrektur. Das gemeinsame Singen erleichtert nicht nur die Integration von Kindern aus anderen Kulturen oder von Behinderten, es ist gelebte Inklusion. Es ist eigenartig, aber aus neurowissenschaftlicher Sicht spricht alles dafür, dass die nutzloseste Leistung, zu der Menschen befähigt sind – und das ist neben dem freien Spielen und dem Märchenerzählen unzweifelhaft das unbekümmerte, absichtslose Singen – den günstigsten Einfluss auf die Entwicklung von Kindergehirnen hat.
    In einer vom Effizienzdenken geprägten Ressourcenausnutzungskultur ist es nicht leicht, den Blick auf all diese scheinbar nutzlosen Beschäftigungen zu richten, die Kindern helfen, die in ihnen angelegten Potentiale optimal zu entfalten: gemeinsames Singen, gemeinsam erlebte Märchenstunden, gemeinsames Spielen, sicher auch gemeinsames Tanzen, Musizieren, Malen oder Basteln. Es reicht auch nicht, einfach nur zu beschreiben und zu messen und zu validieren, dass es so ist. Man muss auch erklären können, weshalb es so ist. Zum Glück ist die Erklärung dieses Phänomens ganz einfach: In diesem gemeinsamem Tun erleben die Kinder etwas, was sie nie erleben, wenn sie unterrichtet werden und wir ihnen mit den besten Absichten und den ausgefeiltesten didaktischen Verfahren etwas beizubringen versuchen. Es ist ein glücklicher Zustand, den sie in diesen gemeinsamen Tätigkeiten erleben. Und dieses Gefühl von Glück und Erfüllung entsteht deshalb, weil in diesem gemeinsamen Tun ihr wichtigstes Bedürfnis gestillt wird, nämlich verbunden zu sein und in dieser Verbundenheit doch gleichzeitig auch wachsen, über sich hinauswachsen, autonom und frei werden zu können.
    Die Erfahrung, dass beides gleichzeitig geht, dass man in engster Verbundenheit wachsen kann, haben alle Kinder bereits vorgeburtlich und zumindest auch eine Zeitlang nach ihrer Geburt gemacht. Diese Grunderfahrung ist tief in ihrem Gehirn verankert und zu einer Erwartungshaltung verdichtet worden. Deshalb suchen alle Kinder schon gleich nach der Geburt nach Nähe und Verbundenheit. Im Gehirn gibt es dafür ein sogenanntes Bindungssystem, das mit besonderen Botenstoffen arbeitet, den sogenannten Bindungshormonen Oxytocin und Vasopressin. Und es gibt dort ein sogenanntes Neugier- oder Antriebssystem, das als Botenstoffe vor allem Katecholamine ausschüttet.
    Wenn Kinder die Erfahrung machen müssen, dass sie entweder nicht die Nähe und Verbundenheit finden, die sie brauchen, oder dass sie nicht ihren autonomen Regungen, ihrer Gestaltungslust und Entdeckerfreude nachgehen können, passiert in ihrem Hirn genau das, was immer im Gehirn passiert, wenn das Gegenteil von dem eintritt, was man erwartet: Verunsicherung, Irritation, Angst.
    In der Folge wird dann eine Angst- und Stressreaktion ausgelöst, und die geht im Hirn mit einem Zustand der allgemeinen Übererregung einher. Angesichts dieses Durcheinanders im Kopf vergeht jedem Kind die Lust am Lernen und Entdecken sofort. Es versucht, sich irgendwie zu retten, entweder indem es sich an den Rockzipfel seiner Bindungspersonen klammert oder indem es sich aus allen ihm die Luft zum Atmen raubenden Bindungen herauszuwinden versucht. Lernen kann es in beiden Fällen nichts, und gut geht es ihm dann auch nicht.
    Besser würde es jedem Kind gehen, wenn es jemanden fände, der es so annimmt, wie es ist. Ohne irgendwelche Erwartungen und ohne etwas aus ihm machen zu wollen. Jemand, der es einlädt, ermutigt und inspiriert, es doch noch einmal zu versuchen, doch noch einmal zu sehen, ob es geht, ob es nicht doch möglich ist, in engster Verbundenheit über sich hinauswachsen zu können, autonom und frei zu werden. Das kann nur jemand, der dieses Kind wirklich liebt. Das Glück, so bedingungslos geliebt zu werden, haben leider nicht alle
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