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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Vorbilder, an deren Interessen, Fähigkeiten, Kompetenzen und Haltungen sie sich orientieren können. Das müssten Vorbilder sein, die sie schätzen und mögen, die sie achten und die ihnen wichtig sind, mit denen sie sich also emotional verbunden fühlen. Solche Menschen sind die einzigen, die die geistige, seelische und moralische Entwicklung von Kindern – oder hirntechnisch: die Ausformung und Stabilisierung hochkomplexer Verschaltungsmuster im kindlichen Gehirn – wirklich nachhaltig fördern könnten.
    Damit es Kindern gelingt, sich im heutigen Wirrwarr von Anforderungen, Angeboten und Erwartungen zurechtzufinden, brauchen sie Orientierungshilfen, also äußere Vorbilder und innere Leitbilder, die ihnen Halt bieten und an denen sie ihre Entscheidungen ausrichten. Nur unter dem einfühlsamen Schutz und der kompetenten Anleitung durch erwachsene »Vorbilder« können Kinder vielfältige Gestaltungsangebote auch kreativ nutzen und dabei ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und weiterentwickeln. Nur so kann im Frontalhirn ein eigenes, inneres Bild von Selbstwirksamkeit stabilisiert und für die Selbstmotivation in allen nachfolgenden Lernprozessen genutzt werden.
    Die Herausbildung komplexer Verschaltungen im kindlichen Gehirn kann nicht gelingen, wenn Kinder in einer Welt aufwachsen, in der die Aneignung von Wissen und Bildung keinen Wert besitzt (Spaßgesellschaft), wenn Kinder keine Gelegenheit bekommen, sich aktiv an der Gestaltung der Welt zu beteiligen (passiver Medienkonsum), wenn Kinder keine Freiräume mehr finden, um ihre eigene Kreativität spielerisch zu entdecken (Funktionalisierung), wenn Kinder mit Reizen überflutet, verunsichert und verängstigt werden (Überforderung), wenn Kinder daran gehindert werden, eigene Erfahrungen bei der Bewältigung von Schwierigkeiten und Problemen zu machen (Verwöhnung), wenn Kinder keine Anregungen erfahren und mit ihren spezifischen Bedürfnissen und Wünschen nicht wahrgenommen werden (Vernachlässigung).
    Stellen Sie sich vor, es gäbe ein Zaubermittel, das jedes Kind stillsitzen und aufmerksam zuhören lässt, das gleichzeitig seine Phantasie beflügelt und seinen Sprachschatz erweitert, das es darüber hinaus auch noch befähigt, sich in andere Menschen hineinzuversetzen und deren Gefühle zu teilen, das gleichzeitig auch noch sein Vertrauen stärkt und es mit Mut und Zuversicht in die Zukunft schauen lässt. Dieses Superdoping für Kindergehirne gibt es. Es kostet nichts, im Gegenteil, wer es seinen Kindern schenkt, bekommt dafür sogar noch etwas zurück: Nähe, Vertrauen und ein Strahlen in den Augen des Kindes. Dieses unbezahlbare Zaubermittel sind die Märchen, die wir unseren Kindern erzählen oder vorlesen. Märchenstunden sind die höchste Form des Unterrichtens. Das Lernen funktioniert ja bei Kindern (wie bei Erwachsenen) immer dann am besten, wenn es ein bisschen »unter die Haut geht«, wenn also die emotionalen Zentren im Gehirn aktiviert werden und all jene Botenstoffe vermehrt gebildet und freigesetzt werden, die das Knüpfen neuer Verbindungen zwischen den Nervenzellen fördern.
    Eine Möglichkeit, einen solch offenen, für das Lernen optimalen Zustand zu erreichen, ist das eben bereits erwähnte Spiel, in dem Kinder sich und die Welt entdecken. Eine andere, bei der Kinder lernen, etwas über die Welt und das Leben zu erfahren, ist die Märchenstunde. Die wirkt am besten, wenn das Märchen von jemandem vorgelesen oder erzählt wird, zu dem das Kind eine enge, vertrauensvolle Beziehung hat. Damit es richtig »im Bauch kitzelt« (die emotionalen Zentren im Gehirn also anspringen, aber nicht gleich überschießen und »Alarm« melden, weil das Kind in Angst und Schrecken versetzt wird), ist die Atmosphäre wichtig. Man kann dazu eine Kerze anzünden oder die Märchenstunde zu einem richtigen Ritual machen. Das hilft Kindern, Ruhe zu finden und sich zu konzentrieren. Dann können auch ziemlich komplizierte Erregungsmuster in ihrem Gehirn aufgebaut und stabilisiert werden. Aber der Inhalt des Märchens muss »passen«. Ein bisschen furchtbar und aufregend darf es schon sein, wenn nur am Ende alles gut wird. Es ist auch nicht gleichgültig, wie ein Märchen erzählt oder vorgelesen wird. Das Kind muss merken, dass der Erzähler oder die Erzählerin selbst ebenfalls begeistert und betroffen, bestürzt oder erschüttert ist. Diese emotionalen Funken können nur überspringen, wenn das Kind immer wieder angeschaut und das jeweilige
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