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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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heranwachsenden Menschen prägen und die in Form komplexer neuronaler Verknüpfungen und synaptischer Verschaltungen in seinem Gehirn verankert werden, sind solche, die in lebendigen Beziehungen mit anderen Menschen gemacht werden. In all jenen Bereichen, in denen es sich von tierischen Gehirnen unterscheidet, wird das menschliche Gehirn durch Beziehungserfahrungen mit anderen Menschen geformt und strukturiert. Unser Gehirn ist also ein soziales Produkt und als solches für die Gestaltung von sozialen Beziehungen optimiert. Es ist ein Sozialorgan.
    Erst in einer derartigen entwicklungsbezogenen Perspektive bekommt man in den Blick, dass menschliche Gehirne Organe sind, die ausschließlich in einem Netzwerk von anderen Gehirnen überlebens- und entwicklungsfähig sind. Gehirne kommen deshalb strenggenommen im Singular gar nicht vor, und die Hirnentwicklung lässt sich überhaupt nur als ein Prozess beschreiben, in dem im Rahmen von Beziehungen aus externer Regulierung von Emotionen, Bedürfnissen und Orientierungen zunehmend interne Regulierung wird. Dass kein Mensch allein überleben, geschweige denn die in ihm angelegten Potentiale entfalten kann, ergibt sich daraus zwangsläufig. Und das ist das wohl erkenntnistheoretisch folgenreichste, unser bisheriges Weltbild am nachhaltigsten erschütternde und in seinen praktischen Auswirkungen auf unser künftiges Zusammenleben kaum zu überschätzende Ergebnis der neueren Gehirnforschung. Denn die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn ein sich erfahrungs- und nutzungsabhängig entwickelndes Organ ist, bedeutet empirisch nicht weniger, als dass die soziokulturelle Entwicklungsumwelt, in die ein Mensch hineinwächst, die neuronale Architektur seines Gehirns ganz entscheidend bestimmt.

Wir haben besondere Bedürfnisse
    Damit ergibt sich, wenn man die Erkenntnisse der modernen Hirnforschung zusammenfasst, folgendes Bild: Das menschliche Gehirn ist weitaus plastischer, als man sich das noch bis vor wenigen Jahren vorstellen konnte. Zu Beginn der Hirnentwicklung werden nicht nur viel mehr Nervenzellen bereitgestellt, sondern auch deutlich mehr Fortsätze, Kontakte und Verschaltungen zwischen diesen Nervenzellen aufgebaut als das, was davon nach der Pubertät noch übrig bleibt. Stabilisiert und als funktionale Netzwerke etabliert werden von diesen anfänglich bereitgestellten Überangeboten nur diejenigen neuronalen Verschaltungsmuster, die während der Phase der Hirnentwicklung immer wieder aktiviert, also regelmäßig genutzt werden. Was für ein Gehirn ein Kind »bekommt«, hängt also davon ab, wie und wofür es sein Gehirn benutzt. Bestimmt wird das allerdings nicht von all dem, was ein Kind in seiner jeweiligen Lebenswelt vorfindet, sondern durch das, was ihm davon für seine eigene Lebensbewältigung als besonders bedeutsam erscheint, wofür es sich also selbst begeistert. Das ist bei allen Kindern zunächst die Steuerung eigener Körperfunktionen und Bewegungsabläufe, später die Gestaltung seiner Beziehungen zu seinen primären Bezugspersonen und erst danach die schrittweise Entdeckung und Gestaltung seiner immer komplexer werdenden Lebenswelt. Dabei macht jedes Kind zwei Grunderfahrungen, die tief in seinem Gehirn verankert werden: Die Erfahrung engster Verbundenheit und die Erfahrung eigenen Wachstums und des Erwerbs eigener Kompetenzen. Diese beiden Grunderfahrungen bestimmen als Grundbedürfnisse seine künftigen Erwartungen. Zeitlebens sucht jeder Mensch nach Beziehungen, die es ihm ermöglichen, sich gleichzeitig als verbunden und frei zu erleben. Nur wenn diese beiden Grundbedürfnisse gestillt werden können, ist ein Kind – und später ein Erwachsener – in der Lage, die in seinem Gehirn bereitgestellten vielfältigen Vernetzungsangebote auf immer komplexer werdende Weise zu nutzen und ein entsprechend komplexes Gehirn zu entwickeln.
    Wenn eines dieser beiden Grundbedürfnisse nicht gestillt werden kann, leidet das betreffende Kind und später der betreffende Erwachsene an einem Mangel. Weil die betreffende Person nicht das findet, was sie braucht, versucht sie sich das zu verschaffen, was sie bekommen kann. Ersatzbefriedigungen nennt man das, was nun fortan zunehmend an Bedeutung für die betreffende Person gewinnt und dazu führt, dass ihre ursprüngliche Offenheit, Beziehungsfähigkeit, uneingeschränkte Neugier und Gestaltungslust in eine bestimmte Richtung gelenkt wurden. Dann werden allzu leicht Dinge bedeutsam, die in Wirklichkeit völlig
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