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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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Bindungsbedürfnis, und dazu gibt es im Hirn ein sogenanntes Neugiersystem, das uns vorwärts treibt, und ein Bindungssystem, das uns die schützende Nähe der Mutter suchen lässt, wenn es draußen zu viel wird.
    Und damit all das viele Neue, das wir auf unseren Erkundungen an uns selbst, an den anderen und in unserer jeweiligen Lebenswelt entdecken, auch gut im Hirn verankert werden kann, kommen wir mit einem Gehirn zur Welt, in dem ganz am Anfang schon riesige Überschüsse an Nervenzellverknüpfungen bereitgestellt werden, die nur darauf warten, dass da oben im Hirn auch etwas ankommt. Jedes Signalmuster, das im Körper und dort vor allem von den Sinnesorganen generiert und zum Gehirn weitergeleitet wird, führt zum Aufbau eines charakteristischen Erregungsmusters innerhalb der in den verschiedenen Bereichen des Gehirns bereitgestellten neuronalen Netzwerke. Je häufiger ein solches spezifisches Erregungsmuster entsteht, desto stärker werden die dabei aktivierten synaptischen Verbindungen gebahnt und gefestigt.
    Anfangs, also vor allem während der vorgeburtlichen Entwicklung, vollzieht sich dieser Strukturierungsprozess noch unter den Bedingungen einer weitgehenden Abschirmung gegenüber äußeren Reizen. Während dieser Phase werden die sich zwischen den Nervenzellen ausbildenden Beziehungsmuster noch in erster Linie durch die im eigenen Körper ablaufenden Wachstums- und Entwicklungsprozesse generierten Signale gesteuert: durch die Ausreifung einzelner Organfunktionen, des Bewegungsapparates, der verschiedenen Sinnesorgane etc. Die dabei im Gehirn entstehenden Beziehungsmuster werden von den aus diesen Reifungsprozessen resultierenden Erregungsmustern »geprägt«; sie repräsentieren daher nicht nur die Erfahrungen über all jene Beziehungen, die sich im Verlauf der eigenen körperlichen Entwicklung ausgebildet haben. Sie werden gleichzeitig auch Teil dieser Beziehungen. Deshalb sind all jene Bereiche des Gehirns, die während dieser Phase herausgeformt werden – die sogenannten subkortikalen Bereiche, also Stammhirn, limbisches System, Hypothalamus, etc. – in besonders intensiver Weise mit dem Körper verbunden.
    Später, vor allem nach der Geburt, werden dann vor allem die in der Großhirnrinde entstehenden Verknüpfungen der Nervenzellen in zunehmendem Maß durch die aus der äußeren Welt stammenden und über die sogenannten Fernsinne aufgenommenen Reize und Erregungsmuster ebenfalls nutzungsabhängig herausgeformt. Spätestens jetzt spielt all das, was sich in der Lebenswelt eines Kindes abspielt, eine zunehmend bedeutsame Rolle für die weitere Strukturierung der Beziehungen der Nervenzellen und neuronalen Netzwerke im sich entwickelnden Gehirn. Jetzt wirken die vielfältigen Beziehungen, die Kinder innerhalb ihrer jeweiligen Lebenswelt eingehen – zunächst mit ihren Eltern, später aber auch mit anderen Personen, mit anderen Lebewesen und mit bestimmten Phänomenen der von den Erwachsenen gestalteten, kulturell tradierten Lebenswelt –, ähnlich prägend wie zuvor die körperlichen Prozesse und bestimmen die weitere Strukturierung der entsprechenden Beziehungsmuster zwischen den Nervenzellen in den jüngeren, erst jetzt ausreifenden Bereichen des Gehirns. Und in gleicher Weise »repräsentieren« nun die so geknüpften neuronalen Beziehungsmuster die in der jeweiligen Lebenswelt von diesen Nachkommen gemachten Beziehungserfahrungen.

Der Preis des Dazugehörenwollens
    Weil diese Beziehungserfahrungen zunehmend von anderen Menschen, deren Verhaltensweisen, Überzeugungen, Meinungen und Vorstellungen bestimmt werden, kann es sehr leicht geschehen, dass die dadurch im Hirn des Kindes entstehenden neuen Verschaltungsmuster nicht mehr so recht zu den älteren, durch seine eigenen Körpererfahrungen und seine eigenen Wahrnehmungen herausgeformten neuronalen Vernetzungen passen. So wird beispielsweise das Bedürfnis, sich zu bewegen, durch entsprechende Maßregelungen oder allein schon durch das Vorbild von Erwachsenen mehr oder weniger eingeschränkt. Der bei kleinen Kindern noch vorhandene Impuls, den ganzen Körper einzusetzen, um das eigene Befinden zum Ausdruck zu bringen, wird später mehr oder weniger deutlich unterdrückt. Gefühle von Angst und Schmerz, auch von übermäßiger Freude und Lust, werden im Zusammenleben mit anderen zunehmend kontrolliert.
    Auf diese Weise passt sich jeder Mensch im Verlauf seiner Kindheit an die Vorstellungswelt und die Verhaltensweisen der Erwachsenen an,
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