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Was wir sind und was wir sein könnten

Was wir sind und was wir sein könnten

Titel: Was wir sind und was wir sein könnten
Autoren: Gerald Hüther
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derart unreifen und deshalb offenen, lernfähigen und durch eigene Erfahrungen in seiner weiteren Entwicklung und strukturellen Ausreifung gestaltbaren Gehirn zur Welt wie der Mensch. Nirgendwo im Tierreich sind die Nachkommen beim Erlernen dessen, was für ihr Überleben wichtig ist, so sehr und über einen vergleichbar langen Zeitraum auf Fürsorge und Schutz, Unterstützung und Lenkung durch die Erwachsenen angewiesen, und bei keiner anderen Art ist die Gehirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz dieser erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie bei uns Menschen.
    Das Grundprinzip, nach dem sich unser Gehirn in seiner individuellen Einzigartigkeit herausformt, ist eigentlich sehr einfach: Es wird am Anfang immer mehr bereitgestellt, als irgendwo auf dieser Welt von irgendeinem Menschen jemals tatsächlich gebraucht wird. Schon vorgeburtlich ist bei uns allen ein beträchtlicher Überschuss an Nervenzellen produziert worden, von denen schließlich aber nur diejenigen erhalten geblieben sind, die auf irgendeine Weise in funktionelle Netzwerke eingebunden werden konnten. Der Rest wurde wieder abgebaut. Das war im Durchschnitt etwa ein Drittel. Die meisten Nervenzellen hatten wir also in unserem Gehirn, als wir noch in einem embryonalen Zustand waren.
    Das gleiche Prinzip nutzt das sich selbst organisierende Gehirn auch, um all jene neuronalen Verknüpfungen und synaptischen Netzwerke aufzubauen, mit deren Hilfe all das gesteuert wird, was uns später hilft, uns in unserer jeweiligen Lebenswelt zurechtzufinden. Wieder werden zunächst riesige Überschüsse an Fortsätzen, Verknüpfungen und Kontakten zwischen den Nervenzellen in den verschiedenen Bereichen des Gehirns bereitgestellt. Stabilisiert und in funktionelle Netzwerke eingebunden werden davon aber nur all jene Verknüpfungen, die tatsächlich gebraucht und benutzt werden. Der Rest wird wieder abgebaut.
    Man kann sich das vielleicht so vorstellen wie die Herausbildung eines Ökosystems auf einem frisch umgeackerten Stück Land in einer bestimmten Landschaft – also beispielsweise an der Nordsee, im Harz oder in den Voralpen –, nachdem man dort so ziemlich all die verschiedenen Pflanzensamen ausgestreut hat, die es in Deutschland gibt. Zunächst gehen fast alle auf und bilden einen dichten Teppich von Pflänzchen unterschiedlichster Arten. Nach einiger Zeit kann man dann aber beobachten, dass auf den verschiedenen Äckern manche Pflanzen besser gedeihen, andere wieder eingehen. So wird das Spektrum der Pflanzenarten, die auf diesen drei unterschiedlichen Biotopen schließlich erhalten bleiben und weiter gedeihen, überall verschieden. Es wird am Ende überall eine Pflanzengemeinschaft entstehen, wie sie für die jeweilige Region typisch ist. So ähnlich ist das auch mit dem Gehirn. Wie es wird, hängt davon ab, in welcher Lebenswelt man aufwächst.
    Im Gehirn beginnt die Bereitstellung dieses Überschusses an Vernetzungsangeboten im Rückenmark und im Hirnstamm, dann kommen die verschiedenen Bereiche des Mittel- und Zwischenhirns an die Reihe, danach der Cortex, und zum Schluss entsteht diese Überfülle an Vernetzungsoptionen in der präfrontalen Rinde, dem Frontallappen. »Ausgejätet« wird das, was nicht gebraucht wird, ebenfalls in dieser zeitlichen Reihenfolge, von hinten unten im Gehirn nach vorn oben.
    Die ersten funktionell relevanten Erregungsmuster werden in den tieferen und älteren Bereichen im Gehirn durch die aus dem eigenen Körper ankommenden Signalmuster aufgebaut. Das sind Erregungsmuster aus den verschiedenen Körperorganen, von der Körperoberfläche und aus den unterschiedlichen Muskelgruppen. Immer dann, wenn beispielsweise der Arm des ungeborenen Kindes zuckt, entsteht im Gehirn ein spezifisches Erregungsmuster, und je häufiger dieses Muster aufgebaut wird, weil der Arm wieder zuckt, desto stabiler wird es. Und je koordinierter diese stabiler gewordenen Vernetzungen im Gehirn die Bewegungen des Armes nun selbst wieder steuern können, desto präziser werden die Armbewegungen. Am Ende der Schwangerschaft kann man dann beobachten, wie das ungeborene Kind mit Hilfe der nutzungsabhängig herausgeformten, seine Armbewegungen steuernden Vernetzungen in der Lage ist, seinen Daumen gezielt in den Mund zu stecken. Ist kein Arm da, kann sich im Gehirn auch keine solche Repräsentanz zur Steuerung der Armbewegungen herausbilden.
    Hat ein Kind schon vorgeburtlich sehr große Extremitäten,
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