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Was mit Rose geschah

Was mit Rose geschah

Titel: Was mit Rose geschah
Autoren: Stef Penney
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einem selbst zuhört.
    Dann kommen Ivo und Christo und stellen sich neben mich. Ivo zündet sich eine Zigarette an, bietet mir aber keine an.
    »Bonjour, mon oncle, bonjour, mon petit cousin«, sage ich.
    Ivo schaut mich nur an. Er sagt ohnehin nicht viel, mein Onkel Ivo. Der große Redner in der Familie bin ich.
    »C’est un jour formidable, n’est-ce pas? Nous sommes debout sur la mer!«
    Christo lächelt mich an. Er hat ein strahlendes, liebes, glückliches Lächeln, das einen selber auch glücklich macht. Man möchte, dass er die ganze Zeit lächelt. Ivo lächelt fast nie. Er kneift die Augen zusammen und bläst den Rauch in Richtung Frankreich, doch der Wind schnappt ihn und trägt ihn dorthin zurück, von wo wir gekommen sind.

4
    Ray
    Ich habe mein höchstpersönliches Gespenst. Vielleicht erinnern Sie sich an den Namen Georgia Millington. Verschwand 1978 im Alter von fünfzehn Jahren auf dem Schulweg. Es gab einen ziemlichen Aufruhr, als sie vermisst wurde – nach allem, was damals oben in Yorkshire passiert war, machten vermisste Mädchen Schlagzeilen. Andererseits haben vermisste Mädchen wahrscheinlich schon immer Schlagzeilen gemacht. Sie verfolgen uns – diese verschwommenen, vergrößerten Fotos in der Zeitung: das eifrige oder schüchterne Lächeln auf Schulaufnahmen, das optimistische Grinsen auf einem Schnappschuss aus dem Pub. Vermisste Mädchen werden immer als hübsch beschrieben, nicht wahr? Als lebhaft und beliebt. Wer würde da widersprechen?
    Im Fall Georgia gab es keine Hinweise. Nachdem die Polizei die Suche eingeschränkt hatte, zogen ihre Eltern – beziehungsweise ihre Mutter und ihr Stiefvater – mich hinzu. Nach ein paar Wochen fand ich sie. Ich fand sie und brachte sie zurück; wütend, unkooperativ und schweigsam. Warum war sie so schweigsam? Ich begreife es bis heute nicht. Hätte sie mir alles erzählt, hätte ich vielleicht den Mund gehalten und zugelassen, dass sie verschwunden blieb. Oder hatte sie gespürt, dass ich zu selbstzufrieden war und ihr nicht zugehört hätte? Immerhin hatte ich Erfolg gehabt, wo die Polizei gescheitert war. Es stimmt, ich war tatsächlich mit mir zufrieden. Meine Firma bestand noch nicht lange, und ich hoffte, es könnte der Anfang von etwas Großem sein. Also gab ich einige Interviews: Der Mann, der Georgia fand … Manchmal geht die Fantasie mit einemdurch, was? Und dann … Sie erinnern sich, was dann geschah – besser gesagt, sieben Monate später. Da gab es einen gewaltigen Aufschrei. Das war eine Sensation. Ich war ihr nicht mehr begegnet, sah sie aber vor meinem inneren Auge. Und dieses Bild war weder hübsch noch unverdorben oder optimistisch.
    Seither habe ich keine Fälle von vermissten Mädchen mehr übernommen. Flüchtige Schuldner sind machbar, ebenso verschollene Verwandte. Oder Ehesachen, so elend und schmutzig sie auch sein mögen, aber keine jungen Mädchen. Nein.
    Stockend und mit vielen Pausen erzählt Leon Wood, was passiert ist. Im Oktober 1978 hat seine Tochter Rose Ivo Janko, einen Jungen aus einer anderen Familie, geheiratet. Eine arrangierte Ehe, auch wenn er es nicht so ausdrückt. Leon und seine Familie kamen zur Hochzeit, die in West Sussex stattfand. Dann zog Rose mit ihrer neuen Familie weg – wurde Teil des anderen Clans. Seither hat Leon sie nicht mehr gesehen. Das ist nicht so ungewöhnlich, wie es klingen mag. Leon lebt wohl auf seinem eigenen Stück Land, doch die Jankos sind Fahrende alter Schule, sie leben nicht auf einem festen Stellplatz, sondern ziehen ständig weiter, von einem Rastplatz zu einem Feld oder einem Grünstreifen, stets bemüht, dem nächsten Besuch der Polizei, der nächsten Vertreibung einen Schritt voraus zu sein.
    »Waren Sie froh, dass sie Ivo Janko geheiratet hat?«
    Leon zuckt mit den Schultern. » Sie wollten es. Ivos Vater, Tene Janko, wollte es, weil wir reinblütig sind.«
    Es ist wie ein Schock, als er das sagt; ein kaltes Kribbeln läuft mir über den Rücken.
    »Wie bitte?«
    »Kommen Sie, Mr Lovell, Sie wissen schon – reine Romany. Tene redete dauernd davon. Wir beide wissen, dass das Unsinn ist; so etwas gibt es nicht mehr, oder? Aber er hatte diese fixe Idee mit dem reinen Blut, dem ›wahren schwarzen Blut‹. Verstehen Sie?«
    Mein Vater sprach nie viel über seine Zeit auf der Straße. Ich glaube nicht, dass er sich dafür schämte, aber die Sache war für ihn aus und vorbei. Er hatte sich dagegen entschieden. In den Augen der Welt wollte er ein respektabler
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