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Was mit Rose geschah

Was mit Rose geschah

Titel: Was mit Rose geschah
Autoren: Stef Penney
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Briefträger sein, der Musterbürger einer aufgeklärten und fortschrittlichen Welt, und genau das war er auch. Wenn man ihn nach seiner Kindheit fragte – und mein Bruder und ich waren früher wahnsinnig neugierig –, lieferte er uns nur die nackten Tatsachen, mehr nicht. Er romantisierte nichts, schwärmte nicht von Freiheit und dem Wind in den Haaren und den Freuden der Landstraße, nichts dergleichen. Er versuchte, das Herumziehen so langweilig wie möglich klingen zu lassen – selbst die Tatsache, dass man nicht immer zur Schule gehen musste, was wir natürlich toll fanden. Was Bildung betraf, besaß mein Vater den Ernst des Autodidakten. Nachdem er im Internierungslager lesen gelernt hatte, nutzte er jede Gelegenheit; er abonnierte den Reader’s Digest und schlug Dinge in einer gewaltigen Enzyklopädie namens The Book of Knowledge nach, die in den zwanziger Jahren erschienen war. Meine Mutter sagt, dass er früher einen Eintrag pro Abend las und auswendig lernte. Später begeisterte er sich für Fernsehdokumentationen, obwohl er ständig anderer Meinung war und nichts glaubte, was nicht auch in seiner Enzyklopädie stand.
    Folglich hegte er über manche Dinge ziemlich seltsame Ansichten, doch wahres schwarzes Blut interessierte ihn nicht. Ich weiß aber noch, wie mein Großvater Tata es erwähnte. Er war wütend, und, wie ich zu spät bemerkte, auch verletzt, weil mein Vater ein gorjio -Mädchen geheiratet hatte. Er weigerte sich jahrelang, mit ihm und meiner Mutter zu sprechen – bis mein Bruder und ich laufen konnten. Da wurde er weich, was Enkelkinder ja häufig bewirken. Ich wusste, dass ich sein Liebling war, weil ich, wie mir oft genug zu verstehen gegeben wurde, nach meinem Vater und somit auch nach ihm geriet.
    »Du bist ein richtiger chavi« , pflegte er zu mir zu sagen – einrichtiger Zigeunerjunge. Anders, das war deutlich, als mein kleiner Bruder mit den rosigen Wangen und den weit blickenden grauen Augen, der seiner Ansicht nach meiner Mutter nachschlug. Meine Mutter und Tom schienen wie dafür geschaffen, bei der Schneehuhnjagd durchs Moor zu streifen, obwohl sie der unteren Mittelklasse angehörten, die es niemals so weit bringen würde. Tom merkte genau, dass ich bevorzugt wurde, und hasste die Besuche bei Tata. Ich hingegen liebte sie.
    Einmal – ich muss etwa sieben gewesen sein – hob mich Tata aufs Knie und sagte: »Du hast trotz allem das wahre schwarze Blut, Raymond. In dir ist mein Vater wieder zum Leben erwacht. Das geschieht manchmal. Du hast das Blut in dir.«
    Ich vermute, wir waren allein, als er das sagte. Ich erinnere mich an sein todernstes Gesicht und den leidenschaftlichen Blick; ich erinnere mich auch an mein Unbehagen, obwohl ich keine Ahnung hatte, was er damit meinte.
    »Es stimmte also nicht?«, frage ich Leon. »Ihre Familie ist gar nicht reiner Romany-Abstammung?«
    »Wer ist das schon? Er aber schien uns dafür zu halten, und Rose war nicht abgeneigt. Ivo war ein gut aussehender Junge.«
    »Ich habe den Namen Janko noch nie gehört. Sind es Engländer?«
    »Denke schon. Tene hat behauptet, sie seien machwaiya oder so – dass sein Vater oder Großvater vom Balkan stammte –, aber das weiß ich nicht genau. Sie sind irgendwie mit den Lees aus Sussex verwandt. Vielleicht ist die Sache mit dem Balkan auch völliger Unsinn.«
    »Und woher kannten Sie sie?«
    Er zuckt mit den Schultern. »Ich hatte sie mal getroffen. Kannte Leute, die sie kannten. Sie wissen ja, wie das ist.«
    »Und nach der Hochzeit haben Sie sie nicht auf den Jahrmärkten getroffen? Sind sie nicht mal zu Besuch gekommen?«
    Leon schaut auf seine Hände. Vielleicht ist er doch ein bisschenmitgenommen wegen der Tochter, die ihm vor Jahren abhandengekommen ist.
    »Die Jankos … blieben irgendwie für sich. Waren allein unterwegs. Gingen nicht unter Leute.« Sein Mund klappt zu.
    »Trotzdem, Ihre Tochter … Sie wollten sie doch sicher sehen. Und Ihre Frau auch, oder?«
    »Wir sind nun mal Fahrende … Ich war nicht überrascht, dass sie nicht zurückgekommen ist. Nach der Hochzeit war sie eine Janko. Keine Wood mehr. Aber jetzt … Es gibt da ein paar Dinge – ich bin mir sicher, dass ihr etwas Schlimmes zugestoßen ist. Ganz sicher.«
    »Sie glauben also, dass die Jankos ihr irgendein Leid zugefügt haben?«
    »Ja, das glaube ich.«
    »Wieso?«
    »Ich traue ihnen nicht. Irgendwas hat nicht mit ihnen gestimmt … Aber es ist schwer zu sagen, was es war.«
    »Vielleicht können Sie es
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