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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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inne, um nicht gleich wieder einzuknicken. Der Hunger höhlte ihn aus. Er näherte sich dem Rand des Kliffs, blickte auf das harte, sich verdunkelnde Blau des Wassers, legte seine Hände wie einen Trichter an den Mund und schrie:
    «Ich heiße Narcisse Pelletier und bin Matrose auf der Saint-Paul.»
    Seine Worte verloren sich ohne Echo in der Weite des Horizonts. Doch hatte er das Gefühl, mit diesem Ausruf etwas von seiner Würde wiedererlangt zu haben.
    Beim Anblick des im Sand verstreuten Gesteins kam ihm eine weitere Idee. Er ging zum Strand hinunter und begann, die Felsbrocken und Steine in Form eines Pfeils anzuordnen, der zum Kliff und zur Talmulde zeigte, in der er schlief. Sollten seine Kameraden kommen und er gerade nicht am Strand sein, würden sie sofort wissen, dass er am Leben und in dieser Richtung zu finden war. Er machte sich an die Arbeit, schleppte die größten, gerade noch tragbaren Brocken heran und ließ einen neben den anderen fallen. In die Zwischenräume streute er Kiesel und schaffte alle anderen Steine aus der Umgebung fort, damit sein Werk im makellosen Sand gut sichtbar war. Für zwei Stunden wurde er zum Arbeiter. Dabei wollte er sich auch beweisen, dass er trotz des Dursts noch immer schweres Gewicht tragen konnte.
    Er betrachtete sein Werk oben vom Kliff aus. Der Pfeil war fünf Meter lang, mit deutlich erkennbaren Flügeln. Man konnte ihn nicht übersehen, es handelte sich um eine klare Aufforderung. Welches Schiff würde einem solchen Zeichen widerstehen können, das vielleicht zu einem Schatz wies …?
    Auf dem Weg zum Nachtlager brach er Zweige ab, um seinen Pfad zu markieren. Es war ihm gleichgültig, ob er sich damit auch für mögliche Angreifer auffindbar machen würde und nicht nur für seine Retter, deren Ankunft immer unwahrscheinlicher wurde.
    Die über dem Lager zusammengefallenen Äste richtete er gar nicht erst wieder auf, sondern warf sie beiseite und legte sich ohne die Illusion eines Schutzes auf den Farn.
    Seine Zunge klebte am Gaumen und war trocken wie ein Stein, aus der Kehle stieg der Geschmack von Galle auf. Seine Arm- und Beinmuskeln schmerzten. Halb in die Blätter vergraben, begann erzu weinen, leise und tränenlos, von lautlosem Schluchzen geschüttelt. Irgendwann schlief er ein.
    Am dritten Tag wurde alles noch schlimmer. Er erwachte und fühlte sich völlig entkräftet, mit leerem Kopf und schlottrigen Beinen. Der Himmel war blau, die laue Brise half nicht gegen die drückende Hitze. Er schaffte sich wieder den Hang bis zum Kamm hinauf: weder Schiff noch Segel am Horizont. Er schlief im Staub ein – vielleicht war er auch ohnmächtig geworden. Als er wieder zu sich kam, näherte sich die Sonne ihrem Zenit und es war Ebbe. Er lief durch den heißen Sand, um seinen Fang einzusammeln, aber die Fischfalle war leer. Eine andere Idee, um an Wasser und Nahrung zu kommen, hatte er nicht. Diese Gegend war so karg und einsam wie alle arabischen Wüsten zusammen. Er bekam Halluzinationen und glaubte, einen großen Hasen mit rotem Fell zu sehen, der auf seinen Hinterpfoten oben am Kliff herumsprang. Er zwinkerte kurz, dann war kein Hase mehr da.
    Er ging wieder hinauf und legte sich unter sein Bäumchen, den Blick auf die Bucht gerichtet. Es war unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen. Er konnte sich nicht an die Gesichter seiner Kameraden auf der Saint-Paul erinnern.
    Stattdessen sah er seine Trauerfeier in der Dorfkirche vor sich. Die Nachricht von seinem Verschwinden hätte seine Eltern erst nach Monaten erreicht, sie würden eine Messe für ihn lesen lassen. Sein Bruder Lucien, ein Schusterlehrling, wäre anwesend, auch seine kleine Schwester Émilie, die sich bei seinen seltenen Besuchen immer so überschwänglich für die Mitbringsel bedankte … Als Messdiener hatte er einmal das Begräbnis eines jungen Fischers miterlebt, der nicht mehr von der See zurückgekehrt war: Die Trauer der Verwandten schien angesichts des fehlenden Sargs noch schmerzlicher.
    Sein Bruder übernahm die väterliche Werkstatt, er selbst, der Zweitgeborene, musste sein Glück anderswo suchen: Mit fünfzehnhatte er als Schiffjunge angeheuert und sich seither an dieses Leben gewöhnt. Wie hätte er ahnen können, dass es so enden würde, durch ein Missgeschick, ohne eine Menschenseele, von aller Welt verlassen. Seiner Familie würde nichts von ihm bleiben. Die trüben Gedanken bewahrten ihn nicht vor dem Durst, der in seiner Kehle brannte. Immer wieder schüttelte es ihn, als ob er
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