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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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seines Leidenswegs auf seine Art und Weise Frieden und Ruhe findenmöge. Möge er niemals mehr diesen furchtbaren Satz aussprechen müssen: Reden ist wie Sterben.
    Möge Gott ihm beistehen.
    Hochachtungsvoll …

15
    Narcisse erinnerte sich nur noch schwach an seinen Onkel und Paten, der starb, als er selbst acht Jahre alt war. Der alte Grenadier lebte in einem Häuschen am Dorfrand, und der kurze Spaziergang zu ihm war Ausgangspunkt für allerlei Abenteuer. Vor seinem Fenster lagen nicht Äcker, sondern deutscher Wald und Kriegsfelder. Er liebte es, von seinen Feldzügen zu erzählen, und das Kind hörte ihm gebannt zu, wenn er schilderte, wie sie marschiert waren, um dem Feind in den Rücken zu fallen, wie sie siegreich in unbekannte Städte einmarschiert und von jungen Generälen inspiziert worden waren, wenn er von Kampfesfieber, dem Lächeln der Marketenderinnen und Kameradschaft auf dem Feld schwärmte, und das alles so weit von Saint-Gilles entfernt.
    Narcisse’ Vater war niemals gereist, und auch seine Mutter nicht oder andere Verwandte.
    Und schon ging es los, in Pommern plünderten sie einen Fürstenpalast, in Bayern übergaben sie unter barockem Gold Verletzte in Chirurgenhände, tagelang überquerten sie bei Schneefall dunkle Berge, sie lagerten vor einer brennenden Stadt, die am folgenden Tag fallen würde, sie raubten dem Feind Kanonen, ihren Traum, in England einzufallen, drängten sie immer wieder zurück, Glockentürme, die wie im Paradies blau-gold verziert waren, Trompeten und Pfeifen,die den Angriff verkündeten, Pulvergeruch und der Kampf Mann gegen Mann – und dann die Verletzung, der Säbelhieb von einem Ulanen, er verletzte ihn schwer am rechten Arm, und seitdem war dieser unbrauchbar … Er bereue nichts, behauptete er. Mitunter zeigte er auf seine Schuhe, um eine Lobrede auf sie anzustimmen, so, als hätte er halb Europa mit ein und demselben Paar Schuhe durchquert und fünf Jahre lang die Waffen des französischen Kaiserreichs getragen – das Kind glaubte ihm.
    Narcisse hatte noch keine Ahnung, wie, aber auch er würde eines Tages fortziehen und etwas sehen, was noch keiner vor ihm gesehen hatte.
    Die Lieblingsanekdote von Grenadier Pelletier war ein Erkundungsgang zusammen mit drei Kameraden in Böhmen. Bei einer Abkürzung durch den Wald gelangten sie an die Biegung eines Hohlwegs und standen einer Kutsche mit vier Pferden gegenüber. Geistesgegenwärtig zielte der Grenadier auf den Postilion, und dieser, aus Angst, sein letztes Stündlein habe geschlagen, ergriff die Flucht in den Wald. Am Kutschenfenster erschien das verschreckte Gesicht einer jungen Frau, die in einen großen blauen Mantel gehüllt war und sie in einer Sprache anflehte, die keiner von ihnen verstand. Es zeigte sich ein Junge von zehn Jahren, vermutlich ihr Bruder, der mutig demonstrieren wollte, dass sie nicht alleine war. Die Soldaten hatten für eine Begegnung dieser Art keinen Befehl, und so beschlossen sie, ihren Fang zum Feldlager zu bringen. Pelletier setzte sich an den Platz des Postilions, ließ niemanden zu seinen Gefangenen einsteigen und fuhr sie zwei Meilen weiter. Sein Vorgesetzter speiste unter einem Zeltdach, aus dem er heraustrat, als er das Hallo hörte, das der Kutsche vorausging. Galant reichte er der jungen Dame den Arm, und noch bevor er sie und ihren Bruder zum Abendessen einlud, sprach er Pelletier öffentlich sein Lob für dessen Mut aus.
    «Stell dir das mal vor, mein Junge! Sie will flüchten, und ich haltesie einfach auf. Das Leben einer Comtesse ändert sich wegen eines unbedeutenden jungen Mannes aus Saint-Gilles-sur-Vie!»
    Unterdessen schimpfte Narcisse’ Vater auf die schlechte Ernte und über zu wenige Aufträge für seine Schusterei.
    Narcisse war sich immer sicher gewesen, dass er reisen würde. Sein Vater hatte sich geweigert, ihn im Alter von zwölf, dreizehn und vierzehn Jahren als Schiffsjunge ziehen zu lassen. Als er fünfzehn war, hatte Narcisse ihn dann überredet. Seither hatte er Nantes und China gesehen, Aden und Bristol, Ceylon und Barcelona, Kapstadt und Bordeaux. Mehr Winkel der Erde und mehr Ozeane, als sein Onkel sich jemals erträumt hätte.
    Und was, wenn diese böhmische Comtesse an jenem Herbstabend im Hohlweg nie gewesen wäre, diese verängstigte Frau im blauen Mantel, die ein paar napoleonische Soldaten in einer unbekannten Sprache angefleht haben soll … Narcisse hatte diese Geschichte so viele Male gehört, dass es ihm vorkam, als wäre er dabei gewesen,
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