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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Hände. Ein strenger Blick bekräftigte meine Frage, es war, als hätten alle vergangenen Unterredungen und alle meine gescheiterten Versuche, ihn zum Reden zu bringen, in jenem Augenblick ihren Höhepunkt gefunden.
    «Davor … Davor war es nicht Narcisse …», flüsterte er mit herzzerreißender Stimme. Diese seltsame Offenbarung konnte man auf verschiedene Weise auslegen. Um Klarheit zu bekommen, kam ich auf den 5. November 1843 zurück.
    «Davor war es nicht Narcisse? Dann erzähl mir doch, was sich an dem Tag ereignete, als Kapitän Porteret euch ausschickte, um nach Wasser zu suchen, und du dich verlorst und die Saint-Paul nicht mehr wiedergesehen hast. Was ist danach geschehen?»
    Diese neuerliche Tortur ließ ihn am ganzen Körper erzittern, und ich dachte schon, er würde bewusstlos werden.
    «Danach … warst du allein am Strand … das Schiff war ausgelaufen, und du wusstest nicht, ob es zurückkehren würde.»
    «Danach … danach war es nicht Narcisse», sagte er mühsam in einem Atemzug.
    Ich holte tief Luft, um mit genügend Kraft weiterzumachen und in seiner beharrlichen Verweigerung jede noch so winzige Öffnung zur Wahrheit zu entdecken.
    «Danach war es nicht Narcisse … Davor war es nicht Narcisse … Aber dazwischen? Als du da unten warst? Während dieser ganzen Jahre? Wer warst du da?»
    Er sagte ein Wort, wahrscheinlich waren es zwei Silben, die er tonlos aussprach, wie um Gnade flehend, wie ein Gefangener im Verhör, dem das Geheimnis entschlüpft, das ihn töten wird. Ich glaubte, etwas wie «Ango» zu hören.
    «Was hast du gesagt?»
    Er wiederholte die Vertraulichkeit oder das Geständnis nicht, sondern vergrub seinen Kopf in den Händen. Ich ließ nicht locker.
    «Wer warst du in der Zwischenzeit?»
    Er hob sein verstörtes Gesicht, über das stille Tränen liefen, und sagte endlich mit schmerzerfüllter Stimme:
    «Reden ist wie Sterben.»
    Ich bedrängte ihn weiter, ich war grausam genug, ihn noch eine ganze Weile zu bedrängen, und erreichte doch nichts, als dass er schwieg und weinte und zwischendurch diesen geheimnisvollen Satz wiederholte:
    «Reden ist wie Sterben.»
    Irgendwann gewann mein Mitleid die Oberhand. Weil ich nicht wusste, wie ich ihn trösten sollte, ging ich ein Glas Wasser holen, ich wollte ihn beruhigen und ihn für die Härte, mit der ich im Namen der Wissenschaft gehandelt hatte, um Verzeihung bitten.
    Als ich das Zimmer wieder betrat, war er nicht mehr da. Ich hatte Verständnis dafür, dass er alleine gelassen werden wollte, und so ließ ich ihn für den Rest des Tages in Ruhe. Das war ein Fehler.
    Am folgenden Tag erschien er nicht zu unserer Verabredung. Ich hatte ihn ursprünglich vor dem Matrosenlager abholen lassen, doch war er nicht dorthin zurückgekehrt, wie ich erfuhr. Er war vor mir geflohen. Er befand sich auf der Flucht. Ich schickte ein Telegramm zum Leuchtturm, aber weder hatte er sich dort blicken lassen noch daheim, in seinem kleinen Haus.
    Meine Sorge wuchs, und ich dehnte meine Suche auf das Krankenhaus, Gefängnis und Leichenschauhaus aus. Er war verschwunden und hatte kein anderes Gepäck bei sich als die Kleider, die er am Leib trug. Wo sollte ich nach ihm suchen lassen?
    Ich meldete der Polizei sein Verschwinden und musste angeben, in welchem Verhältnis ich zu ihm stand. Die Kategorie Freund der Familie erschien mir am wenigsten falsch. Der Kommissar hörte sich meine Erklärungen an und versicherte mir, dass man nach ihm fahnden würde. Ich benachrichtigte den Bürgermeister von Saint-Gilles.
    Es gab keine Spur, die ich hätte aufnehmen können. Und warum hätte ich ihn auch verfolgen sollen? Um Vergebung zu erlangen? Um ihn weiter zu verhören? Um ihn unter meiner Fuchtel zu halten? Im Namen der Wissenschaft?
    Seit seinem Verschwinden ist eine Woche vergangen. Merkwürdigerweise glaube ich nicht, dass er seinem Leben ein Ende gesetzt hat. Ich weiß, dass er irgendwo auf einer Straße dahinwandert, weder weißer Wilder noch Leuchtturmverwalter beim Phare des Baleines, unerreichbar für jede Art von Frage, ein einfacher Landstreicher wie so viele andere, ohne Vergangenheit oder Zukunft.
    Bevor ich La Rochelle in Richtung Vallombrun verließ und auf Nachrichten wartete, die nicht kamen, ging mir sein Verhalten durch den Kopf.
    Anscheinend hatte er gelitten, als ich ihn zu den beiden Augenblicken befragte, in denen er gegen seinen Willen von einer Welt in die andere geworfen worden war – und je mehr meine Fragen an diesen gewaltsamen
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