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Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman

Titel: Was mit dem weißen Wilden geschah - Roman
Autoren: C.H.Beck
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Übergang rührten, desto verstörter, zerrissener und niedergeschmetterter schien er zu werden. Sein Gedächtnis, ja, sein ganzer Körper verweigerten sich hartnäckig dieser Erinnerung. Bewusster Wille spielte dabei keine Rolle. Irgendeine unbekannte Macht hielt ihn gefangen, das hatte ich bereits 1861 in Australien bemerkt und in einem meiner Briefe mit einem inneren Kampf zwischen zwei Identitäten verglichen: ein Matrose in einem Kerker, dessen Tür sich einen Spaltbreit öffnet, und ein kleiner wilder Teufel, der ihn daran hindern will, sich zu befreien. Der kleine Teufel, oder vielmehr eine dunkle und eigenständige Macht, hat die letzte Partie gewonnen.
    Seine Tränen kündeten von der Gewalt dieses inneren Kampfs. Seine Tränen in London, als ich ihm vorhielt, er könne ja wohl unmöglich aus dem Bauch einer australischen Negerin stammen, entsprangen derselben Quelle. Wir müssen uns darüber klar werden,dass Narcisse wie ein Schlachtfeld ist. Der Kanonenrauch hat sich verzogen, die Armeen sind abgerückt, und es bleibt nur eine schmutzige, als Ackerland unbrauchbar gewordene Ebene mit versehrten Bäumen. Das ist die Seelenlandschaft von Narcisse.
    Um ihn zu begreifen, bleibt mir nur sein Aphorismus, ist dieser etwa sein Abschiedsgeschenk? «Reden ist wie Sterben.»
    Reden, das hätte bedeutet, das Unaussprechliche dieser dort unten verbrachten Tage in Worte zu fassen, zu erzählen, über die Erinnerungen, die ich unaufhörlich von ihm forderte, zu sprechen und somit ein Gelübde zu brechen. Meine Fragen zu beantworten bedeutete für ihn, sich in höchste Gefahr zu begeben. Sterben, nicht einen klinischen Tod, sondern tot für sich und andere zu sein. Sterben, weil es unmöglich war, beide Welten zugleich zu denken. Sterben, weil es unmöglich war, zugleich Weißer und Wilder zu sein.
    Zweimal brachte er diese unsägliche Reise von einer Welt in die andere hinter sich. Um mit den Wilden zu leben, musste er sein Matrosenleben vergessen – wer wird jemals ermessen, um welchen Preis! Als er wieder unter Weißen lebte, verweigerte er sich instinktiv einer ähnlichen Prozedur und flüchtete sich in eine selbst auferlegte Amnesie. Es war ihm unmöglich, Antworten zu geben, wenn er nicht die Brücke zu seiner Festung herablassen und beide, Matrosen und kleinen Teufel, in einen tödlichen Kampf verwickelt sehen wollte. Sein Verstand hätte das nicht überlebt.
    Ihrer Majestät war es gelungen, ein Guckloch zu öffnen und ins Innere zu spähen, wahrscheinlich, weil sie ihm aufgrund ihrer Macht und ihrer Stellung nicht wie von dieser Welt erschienen war. Das Mitleid mit seinem Kameraden, der um sein Kind trauerte, ließ ihn einen Augenblick lang die Kontrolle verlieren und brachte ihn dazu, einen Teil seiner Geschichte in Australien, seine beiden Kinder, zu offenbaren. Aber in beiden Fällen ließ er sich von starken Gefühlen dazu hinreißen,etwas von sich preiszugeben. Ich befrage ihn seit sechs Jahren und habe niemals etwas erreicht. Schweigen ist zum Schlüssel seines Überlebens geworden.
    Ich frage mich übrigens erst jetzt, was aus ihm geworden wäre, falls die Expeditionen von Wilton-Smith ihn mit seinen Kindern wiedervereint hätten. Hätte die Freude des Wiedersehens alles überflügelt? Wäre er davon niedergeschmettert worden, dass seine australische Vergangenheit in sein gegenwärtiges Leben einbrach? Welchen ungeahnten Gefahren hätte mein naiver Wunsch, Gutes zu tun, ihn ausgesetzt? Hätte er den beiden sagen können: Reden ist wie Sterben? Und in welcher Sprache?
    Er war außerstande, mir zu antworten. Er war außerstande, mir nicht zu antworten. Er ist geflüchtet.
    Ich ahne, dass wir ihn nicht mehr wiedersehen werden.
    Von der Polizei gibt es nichts Neues, auch nicht vom Bürgermeister von Saint-Gilles, von niemandem. Ich kehre, von diesem tragischen Ereignis sehr mitgenommen, nach Vallombrun zurück. Ich hoffe, dort Bestätigung für das zu finden, was ich glaube, begriffen zu haben.
    Von all den Fragen, auf die ich von ihm nunmehr keine Antwort erhalten werde, schmerzt mich eine besonders. Er hat sich mir gegenüber immer zurückhaltend und freundlich zugleich verhalten, ohne seine tieferen Gefühle preiszugeben. Was war ich für ihn all diese Jahre lang? Ein Freund? Ein großer Bruder, obgleich ich nur vier Jahre älter bin als er? Ein Mentor? Ein Verfolger? Ein aberwitziges Instrument des Schicksals? Oder alles auf einmal?
    Jetzt bleibt mir nur, dafür zu beten, dass Narcisse Pelletier am Ende
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